Zeitenwende in Nahost
Von Ina Sembdner
Während hierzulande die sogenannte Zeitenwende auf antirussischer Propaganda fußt, finden in Nahost reale Umwälzungen statt, die es in dieser Intensität lange nicht gegeben hat. Israels verbrecherischer Krieg gegen den Gazastreifen hat Tür und Tor geöffnet für das Durchsetzen strategischer Interessen – nicht nur der ultrarechten Regierung in Westjerusalem. Und während die USA unter Präsident Joe Biden Benjamin Netanjahus Regierung zwar rhetorisch mahnte, praktisch jedoch ungehemmt aufrüstete, bemüht sich Donald Trump nicht einmal darum, seine wohlwollende Unterstützung der Zionisten zu verstecken. Schlimmer noch, hat er mit seinen »Riviera«-Plänen für die verhungernde und nahezu vollständig zerbombte palästinensische Enklave entsprechenden politischen Plänen in Israel die nötige Rückendeckung verschafft.
Was das für die rund zwei Millionen Einwohner des Gazastreifens seit anderthalb Jahren bedeutet, hat der palästinensische Künstler Maisara Baroud in seinen Zeichnungen der Serie »I’m still alive« (Ich bin noch immer am Leben) exemplarisch festgehalten. Wir zeigen in dieser Beilage eine kleine Auswahl. Der 1976 in Gaza geborene Baroud lehrte unter anderem als Universitätsdozent an der Al-Kuds-Universität in der Hauptstadt des Küstenstreifens – im Rahmen des »Scholastizid« genannten Vorgehens haben Israels Truppen diese wie alle anderen Hochschulen in der Enklave dem Erdboden gleichgemacht. Baroud hat auch alles andere verloren: seine Bilder, Werkzeuge, Bücher und wertvolle Erinnerungen. Dennoch zeichnet er weiter, »um meinen Freunden zu sagen, dass ich noch lebe«.
Auch die sogenannte Achse des Widerstands ist allen westlichen Unkenrufen zum Trotz zwar angeschlagen, aber nach wie vor am Leben. Wiebke Diehl schildert in ihrem Text »Noch lange nicht besiegt«, dass mit dem Sturz der Regierung in Syrien eine zentrale Säule der »Achse« weggebrochen ist. Anders im Jemen: Dort werden die Ansarollah mit ihren von großen Teilen der Bevölkerung getragenen palästinasolidarischen Angriffen auch zukünftig strategisch Erfolge erzielen können. Die afrikanischen Staaten sind mehrheitlich ebenso »Verbunden im Antikolonialismus«, wie Sabine Kebir in ihrem Artikel schreibt. Allen voran Südafrika, dessen Klage vor dem Internationalen Gerichtshof sich die Afrikanische Union und antikoloniale Staaten wie Algerien angeschlossen haben. Sie alle fordern ein Ende des genozidalen israelischen Kriegs gegen die besetzten palästinensischen Gebiete und fürchten eine zweite Nakba. Den Auswirkungen der ersten »Katastrophe« – der massenhaften Vertreibung und Enteignung Hunderttausender Palästinenser – vor und nach der Staatsgründung Israels am 14. Mai 1948 hat Mathias Dehne in den Flüchtlingslagern Jordaniens nachgespürt. In seiner Reportage »Im Herzen Palästina« trifft er auf Menschen, die alles verloren haben, Jahrzehnte im Provisorium lebten oder leben und auch im Exil nur knapp dem Tod entronnen sind.
»Zwischen Ost und West« changieren derweil die Vereinigten Arabischen Emirate, die zwar rhetorisch an der Solidarität mit Palästina festhalten, faktisch jedoch als erster arabischer Staat in jüngerer Zeit die Beziehungen zu Israel »normalisiert« haben. Auch die Kooperation im Rüstungsbereich vertieft sich zusehends, während man sich ansonsten den BRICS und der chinesischen »Belt and Road Initiative« zuwendet. »Schritt für Schritt« muss Moskau vorangehen, wenn es strategisch in der Region Einfluss wahren will – dies immer gebunden an die Türkei, wie Reinhard Lauterbach mit einem Rückgriff auf die Geschichte herleitet. Zuletzt zeigte sich das in Syrien nach dem Sturz des von Moskau unterstützten Präsidenten Baschar Al-Assad. Das Land ist auch zentral für die Vision der Ultrarechtsregierung in Westjerusalem, dass ein »Neuer Mittlerer Osten« gemäß zionistischen Vorstellungen entstehen soll, wie Karin Leukefeld abschließend darlegt: Denn um ein »Großisrael« vom Nildelta bis zum Persischen Golf zu errichten, muss Syrien zerschlagen werden.
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