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Aus: Alternatives Reisen, Beilage der jW vom 21.02.2024
Alternatives Reisen

Von Genf bis Kabul

Sommer 1939: Die Schweizer Schriftstellerinnen Annemarie Schwarzenbach und Ella Maillart auf Reisen im Ford Roadster
Von Barbara Eder
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Unkonventionell, neugierig und weltoffen: Ella Maillart (l.) und Annemarie Schwarzenbach mit Ford

So sieht man die Schweizer Schriftstellerin, Reporterin und Reisende Annemarie Schwarzenbach selten: Eine im nachhinein ikonisch gewordene Fotografie zeigt sie in einem längsseitig gestreiften Mantel aus Baumwoll- und Seidenfasern. Er zählt in Zentralasien zur traditionellen Männertracht, Schwarzenbach hat sich des fremden Kleidungsstücks auf der Durchreise bemächtigt. »Im Oktober ist es so kalt, dass ich Turkmenenstiefel u. einen ›Tchapan‹ trage«, heißt es in einer Notiz der Autorin zu einer Schwarzweißaufnahme der Reisefotografin Ella Maillart aus dem Winter 1939. Sie posiert vor den Säulen des Bagh-e-Jahan-Nama-Palasts am südlichen Stadtrand von Kholm, am Fuße des Marmal-Gebirges im Norden Afghanistans – mit gesenktem Blick und Zigarette.

Auf ihrer zweiten Reise nach Zentralasien ist Schwarzenbach nicht allein. Im Sommer 1939 besteigt sie mit Maillart in Genf einen 18-PS-starken Ford Roadster. Die erste Etappe führt die Reisenden über Bulgarien und die Türkei bis in den Iran und Afghanistan, 1940 setzen sie ihren Weg über Pakistan nach Indien fort und gelangen mit dem Schiff nach Massawa, Hauptstadt der damaligen italienischen Kolonie Eritrea. Dem gemeinsamen Aufbruch ging eine zufällige Begegnung voraus: Schwarzenbach und Maillart lernten sich in Zürich kennen und faszinierten sich. Beide waren unkonventionell, neugierig und weltoffen – Frauen, die es sich leisten konnten, zu schreiben und zu reisen, Intellektuelle, die sich der Zeitläufe und ihrer eigenen Klassenlage immer wieder entgegenstellten: Schwarzenbach war der mittlere Spross einer betuchten Schweizer Industriellenfamilie mit gefährlicher Nähe zum Faschismus, die sportliche Maillart ein Einzelkind, das sich als internationale Fotoreporterin den Fängen einer Genfer Pelzhändlerdynastie entzog.

Suche nach Verlorenem

Die Reise nach Afghanistan begann während des Zweiten Weltkriegs und gestaltete sich im Rhythmus von Passagen. Vom Boden der neutralen Schweiz aus traten zwei Frauen die Flucht nach vorne an. Schwarzenbach war morphiumsüchtig und litt immer wieder an Erschöpfungszuständen, erst nach einem längeren Krankenhausaufenthalt konnte sie das Familiengut am Zürichsee verlassen. Sie war dazu bereit, bis »an den Rand der Abgründe« zu gehen – ohne exotisierenden Impetus: Schwarzenbach wollte das andere weder ausstellen noch verstehen, vielmehr suchte sie im Fremden nach einer verloren gegangenen Beziehung zu sich selbst. »Ich bin nicht unterwegs, um neue Tugenden und andere Sitten zu entdecken. Ich brauche keine bitteren Gewürze, keine fremden Gifte, keine Bezauberungen. Ich befreie mich von den Dolmetschern«, heißt es dazu in ihrem 1940 erschienen Roman »Das glückliche Tal«.

Es ist nicht die erste Reise nach Afghanistan, zu der sie im Sommer 1939 aufgebrochen war. Bereits im Herbst 1933 hatte sie den Orientexpress nach Istanbul bestiegen, im Alleingang bereiste sie die türkischen Städte Ankara, Kayseri und Konya und zog durch mehr als ein Dutzend anatolische Dörfer; vom türkischen Talas fuhr sie bis ins syrische Aleppo, auf dem Weg von Beirut über die libanesische Grenzstadt Ain Sofar und Damaskus in Syrien in den Irak. Nach ihrer Ankunft in Bagdad am 29. Januar 1934 notierte Schwarzenbach in ihr unter dem Titel »Winter in Vorderasien« erschienenes Tagebuch: »Vor meinem Fenster strömt breit und gelb der uralte Tigris. Palmen stehen am jenseitigen Ufer, grosse Ruderbote gleiten zur Brücke des General Maude hinab; drüben gibt es Soldaten, ihre Signale schmetterten von Zeit zu Zeit im Dreiklang in den morgendlichen Himmel.«

Die Präsenz britischer Kolonialherren bestimmte Schwarzenbachs Ersteindruck von der irakischen Hauptstadt. Soldaten von General Frederick Stanley Maude, die Bagdad im März 1917 von osmanischen Truppen eingenommen hatten, hielten dort die Stellung. Das Schweizer Patrizierkind mit unstillbarerem Reisedrang tangierte dies kaum – unruhig und getrieben, lag das Ziel ihrer Reise anderswo. Mit einem Trupp wüstenkundiger Beduinen wanderte Schwarzenbach am ausgetrockneten Flussbett des Euphrats entlang und überquerte mit einer Fähre den Tigris, nahe der einstigen Metropole Uruk (heute Warka) beteiligte sie sich an einer Reihe archäologischer Ausgrabungen und fotografierte die Arbeiter an ihren Stätten. In Babylon traf sie den Berliner Archäologen Julius Jordan, der im Auftrag der Deutschen Orientgesellschaft vor Ort tätig war, in Nadschaf nahm sie Notiz von einer »Rösslitram«, die als inoffizielle Linie zwischen Kufa und Kerbala verkehrte. Zurück in Bagdad, wollte Schwarzenbach niemand durch den Wüstenwinter chauffieren, alle Pässe nach Persien waren vereist. In einem Fliegerlager, das von Luftstreitkräften des Vereinigten Königreichs betrieben wurde, schloss sie sich vorübergehend einer britischen Jagdgesellschaft an, im März 1934 erreichte sie zuerst die westiranische Stadt Hamadan, dann das verschneite Teheran.

Reise und Flucht

Die Türkei, Syrien, der Libanon und der Irak waren für Schwarzenbach nur Orte des Übergangs. Während ihrer Reise mit Maillart war sie weiterhin vom Wunsch getrieben, ins »Niemandsland« zwischen Persien und Afghanistan zu gelangen. Mit Fotoapparat, Schreibmaschine und Monteurwerkzeug ausgerüstet, kampierten die beiden Frauen auf dem Weg dorthin und kochten Risotto. Die nördlich von Teheran gelegenen Salzwüste Dascht-e Kavir hatte Schwarzenbach erstmals im Frühjahr 1934 betreten, von Januar bis März 1936 verarbeitete sie ihre Erfahrungen zu einem Roman. Schwarzenbachs Sehnsuchtsort lag inmitten dieser Zone, einsam und erschöpft findet sich ihre Protagonistin am Fuße des Berges Damavand wieder. Die menschenleere Landschaft wird zum Sinnbild für das nackte Nichts – wer es betritt, hat die letzte Grenze bereits überschritten. Jenseits davon gibt es kein wiedergefundenes Ich, nur ein zerklüftetes Selbst. Das persische Lahrtal ist ein Ort, der »keinen Ausgang mehr hat und deshalb schon dem Ort des Todes ähnlich und den Feldern der Engel benachbart sein muß«, heißt es in »Das glückliche Tal«. Nicht Eros, sondern Thanatos bindet Schwarzenbachs Protagonistin an die karge Landschaft.

Auf ihrer Fahrt mit Maillart findet Schwarzenbach keinen Halt mehr, der Übergang zwischen Reise und Flucht scheint längst überschritten. Schwarzenbach, die 1942 infolge eines Fahrradunfalls nahe Sils im Schweizer Kanton Graubünden stirbt, stieß vor ihrer letzten Reise noch einmal auf wärmere Zonen. Im September 1934 erreichte sie über die Grusinische Heerstraße eine zwischen Zentralasien und Europa gelegene Metropole in der Kaukasusregion. Nicht anders als in Bagdad, ist es auch zum Zeitpunkt ihrer Ankunft in Tbilissi nasskalt, dennoch führt die georgische Hauptstadt das Wort »warm« – თბილი (tbili) – im Namen. Inmitten ihrer Pistazien- und Wacholderbäume ist Annemarie Schwarzenbach einen Moment lang angekommen.

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