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Aus: Literatur (Leipziger Buchmesse), Beilage der jW vom 26.04.2023
Belletristik

Folge dem Geld

Der Wertewesten geht nicht kampflos: Éric Vuillards neuer Roman über die Hintergründe des Vietnamkriegs
Von Gert Hecht
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Stefan Zweig, der die historische Miniatur als literarisches Genre populär machte, schrieb über »Sternstunden der Menschheit«, bei ihm verdichtete sich Weltgeschichte in meisterhafter Kurzprosa. Bei dem französischen Schriftsteller Éric Vuillard sind es eher die Abgründe der Menschheit. Oder präziser: die Abgründe der politischen Ökonomie des Kapitalismus. In »Kongo« (2015) erzählt Vuillard wie einst Joseph Conrad von den Greueln des Kolonialismus auf der Suche nach Rohstoffen und Profiten. In »Die Tagesordnung« (2018) beschreibt er die Unterstützung der deutschen Wirtschaft für die Nazis und Hitler. Und nun, in seinem neuesten Buch »Ein ehrenhafter Abgang«, von Nicola Denis ins Deutsche übertragen, vom Krieg in Indochina, der erst 1975 mit der Eroberung von Saigon endete. Er beginnt 30 Jahre vorher, mit der Erklärung der Unabhängigkeit Vietnams durch Ho Chi Minh. Sehr zum Ärger der Kolonialmacht Frankreich, die einen Krieg gegen die Viet Minh beginnt. Es ist ein Stellvertreterkrieg zweiter Welten, einer im Abstieg und einer im Kommen.

Über Vuillards Methode muss man folgendes wissen: Erstens schreibt er keine historischen Abhandlungen. Wer sich über Kolonialismus und Krieg umfassend informieren will, muss auf andere Literatur zurückgreifen (jüngst zu empfehlen sind David van Reybroucks epochale Studie »Revolusi« über Indonesien und die Geburt der modernen Welt oder Adom Getachews »Die Welt nach den Imperien« über die politischen Debatten einer postkolonialen Weltordnung). ­Vuillard entwirft literarische Modelle, die nicht den strengen Ansprüchen einer Geschichtsschreibung genügen mögen, die aber im Blick aufs historische Einzelereignis die Gesetze des Allgemeinen durchscheinen lassen. Zweitens setzt Vuillard auf einen Wechsel der Szenerie. Wer Dschungel­exotik und Schlachtennebel sucht, wird sich auch anderweitig umschauen müssen (und in Filmen fündig werden). Vuillard beschreibt Parlamentssitzungen, das Treffen des Verwaltungsrates einer Bank oder ein politisches Meeting. Das wirkt auf den ersten Blick unspektakulär, ist es aber nicht.

Nimmt man nämlich beides zusammen, ergibt sich daraus ein literarisches Programm, das man als kritischen Realismus bezeichnen darf. Es ist der Versuch, hinter den einzelnen Ereignissen und Handlungen das Geflecht an Abhängigkeiten sichtbar zu machen – ob man das nun »Strukturen«, »Macht« oder »politische Ökonomie« nennt –, das die einzelnen Handlungen anleitet und ins Verhältnis setzt. »Homer mit Marktwirtschaft« zu verbinden, so nennt es Vuillard, als er vorschlägt, die berühmten Namen glorreicher Schlachten zu verändern, um ihren wahren Charakter zu offenbaren: die Schlacht für die Sociéte française, für die Aktiengesellschaft der Erzbergwerke von Cao Bang, für die Aktiengesellschaft der Kohlegruben von Ninh Binh oder für die Aktiengesellschaft der Goldvorkommen von Hoa Binh. Will man die moderne Welt verstehen, muss man auf Lester Freamon aus der Serie »The Wire« hören: »But you start to follow the money, and you don’t know where the fuck it’s gonna take you.« Vuillard landet bei der Banque d’Indochine, Boulevard Hausmann 96, Paris – wo das Geld zusammenfließt.

Krieg ist ein Geschäft, bei dem die Bank immer gewinnt. Ausführlich schildert Vuillard, wie man in der Banque d’Indochine bereits auf Frankreichs Niederlage wettet, während im Parlament noch – mit Ausnahme der Kommunisten – patriotische Reden geschwungen werden, die eine Niederlage in Indochina zum Niedergang der freien westlichen Welt und Frankreichs Größe erklären. Nachdem es zuvor hieß, dieser Krieg sei in weniger als zwei Jahren gewonnen. »Im Namen der nationalen Ehre rief die Bank mit ­Hilfe des Parlaments zu einem mörderischen Krieg auf, aus dem sie Profit schlug und den sie gleichwohl für verloren hielt.« Vuillard interessiert sich für die Innenperspektive der Hochfinanz, für die Überlegungen der politischen und militärischen Elite. Dass er dabei den Konventionen des historischen Romans folgt – also dem literarischen Blick durchs berühmte Schlüsselloch, der suggeriert, direkt dabei gewesen zu sein –, ist eine Schwäche, die man angesichts der sonst überzeugenden Konzeption zu verzeihen bereit ist.

Vuillard erzählt von der Niederlage von Dien Bien Phu, einem Wendepunkt im Indochinakrieg, der zum Rückzug der Franzosen und späteren Eingreifen der USA führt. Und nebenher auch vom Agieren von US-Geheimdiensten und Militärs im Iran, im Kongo oder Guatemala. Er entwirft das Panorama einer Welt im Umbruch und im Krieg. Und er lässt wenig Zweifel daran, dass der »Werte­westen« seinen Zugriff auf alles, was sich mit hohen Profiten ausbeuten lässt, verteidigt wie ein ererbtes Vorrecht im Feudalismus. Dabei beobachtet Vuillard, wie sich die politisch Herrschenden »in der Sprache der Verantwortlichkeiten verheddert« haben. Das gibt auch den Titel des mit knapp 140 Seiten schmalen Bandes. Der »ehrenhafte Abgang« ist die politische und militärische Illusion, einen großen Sieg zu erreichen, der wiederum eine Verhandlungsposition garantiert, mit der man die eigenen Ansprüche maximal durchsetzen kann. »Der Krieg ist praktisch verloren. Das einzige, was man sich noch erhoffen kann, ist ein ehrenhafter Abgang«, sagen bei Vuillard die Politiker hinter vorgehaltener Hand. Doch wer öffentlich für einen Waffenstillstand eintritt, wird als Verräter geächtet. Hat da jemand Ukraine gesagt?

Was Vuillards Roman so unübertrefflich macht, ist die Höhe, auf der es seinen Gegenstand zu fassen bekommt. Es ist ein Buch gegen den Krieg, das nicht nur das Leiden des Einzelnen verdammt, sondern schaut, welcher Posten in der Bilanz es ist. Es ist ein Buch gegen den Krieg, das nicht mit Moral, sondern mit politischer Ökonomie argumentiert. Es ist einfach klüger, präziser, überlegter. Angesichts der Millionen Toten, der Verheerung und der Bilder vom überstürzten Rückzug der USA aus Saigon fragt Vuillard, ob statt der lächerlichen Hoffnung auf einen »ehrenhaften Abgang« nicht die Schande besser gewesen wäre. Gemeint fühlen darf sich der Westen als solcher, denn diese Frage betrifft ihn zur Zeit im Weltmaßstab.

Dabei schaut Vuillard keineswegs ausschließlich in die Abgründe der Menschheit, auch bei ihm gibt es Sternstunden: Sie heißen Revolutionen. Vuillard hat sie in »14. Juli« (2019) und »Der Krieg der Armen« (2020) beschrieben.

Éric Vuillard: Ein ehrenhafter Abgang. Aus dem Französischen von Nicola Denis, Verlag ­Matthes & Seitz, Berlin 2023, 139 Seiten, 20 Euro

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