Triumph der Diplomatie
Von Hellmut Kapfenberger
Am 27. Januar 1973 unterzeichneten in der französischen Hauptstadt die Außenminister der Demokratischen Republik Vietnam (DRV) und der USA, Nguyen Duy Trinh und William P. Rogers, das »Abkommen über die Beendigung des Krieges und die Wiederherstellung des Friedens in Vietnam«. Ein textgleiches Abkommen unterschrieben an der Seite der DRV die Außenministerin der Provisorischen Revolutionären Regierung der Republik Südvietnam (RSV), Nguyen Thi Binh, an der Seite der USA der Außenminister der Republik Vietnam (Saigon), Tran Van Lam. Mit dem Ergebnis eines hartnäckigen mehrjährigen Verhandlungspokers wurde das Ende dessen besiegelt, was weithin »Amerikanischer Krieg« genannt wird. Er war im Frühjahr 1965 mit der Entsendung der ersten US-Bodentruppen nach Südvietnam und dem Beginn des Bombenkrieges gegen den Norden des Landes vom Zaun gebrochen worden.
Der Chefunterhändler der DRV, Le Duc Tho, nannte das Abkommen¹ auf einer Pressekonferenz in Paris »die Krönung von 13 Jahren mutigen Kampfes, den das vietnamesische Volk gegen den amerikanischen Imperialismus und eine Gruppe von Verrätern im Lande um den Preis unzähliger Opfer und Leiden geführt hat«.² Es sei Ergebnis »von fünf Jahre dauernden Verhandlungen in Paris«, 202 regulärer Sitzungen und 24 vertraulicher Unterredungen. Mit der Unterzeichnung hätten »das vietnamesische Volk, das amerikanische Volk und alle friedliebenden Völker in der Welt einen großen Sieg errungen«. Es stelle zusammen mit den Zusatzprotokollen »ein Ganzes von grundlegenden juristischen Dokumenten mit großer Tragweite dar«.³
Vertragsbestimmungen
Von grundsätzlicher Bedeutung ist das den USA abgerungene Kapitel I, Artikel 1: »Die Vereinigten Staaten und alle anderen Länder respektieren die Unabhängigkeit, Souveränität, Einheit und territoriale Integrität Vietnams, wie sie in den Genfer Abkommen von 1954 über Vietnam anerkannt wurden.«⁴ Das war, wenn auch indirekt, die neuerliche Anerkennung eines einheitlichen und einzigen vietnamesischen Staates namens Demokratische Republik Vietnam und einer von vielen Punkten, gegen die die somit delegitimierte Saigoner Administration heftigen Widerstand leistete. Am 27. Januar 1973 um 24 Uhr Greenwich Mean Time (GMT) hatte in Südvietnam ein Waffenstillstand zu beginnen (Kapitel II, Artikel 2). Gleichzeitig sollten die USA »die gesamten militärischen Aktivitäten der Boden-, Luft- und Seestreitkräfte« gegen die DRV einstellen und die in den DRV-Gewässern verlegten Minen⁵ »definitiv entschärfen und zerstören«. Den Details der Minenräumung galt eines der Zusatzprotokolle; die Räumungsaktion sollte ebenfalls am Unterzeichnungstag um 24 Uhr GMT beginnen.
In Artikel 5 und 6 wurde festgelegt, binnen 60 Tagen »alle Truppen, Militärberater und das militärische Personal (…) sowie Waffen, Munition und Kriegsmaterial« der USA und der mit ihnen am Krieg beteiligten Länder⁶ aus Südvietnam abzuziehen sowie »alle Militärstützpunkte der USA und der anderen Länder« aufzulösen. Nicht zulassen sollten die beiden südvietnamesischen Seiten, »dass Truppen, Militärberater und Militärpersonal einschließlich technischen Militärpersonals, Waffen, Munition und Kriegsmaterial nach Südvietnam gebracht werden«.
Die Lösung der Gefangenenfrage, die auch Tausende politische Gefangene im Süden betraf, sollte laut Kapitel III binnen 90 Tagen erfolgen. Beide »südvietnamesische Seiten« sollten gemäß Kapitel IV, Artikel 11 unmittelbar nach dem Waffenstillstand »die nationale Versöhnung und Eintracht herbeiführen« und »die demokratischen Freiheiten des Volkes garantieren«. Laut Artikel 12 sollten sie zugleich Konsultationen »durchführen, um einen nationalen Rat der nationalen Versöhnung und Eintracht« zu bilden, und möglichst binnen 90 Tagen »ein Abkommen über die inneren Angelegenheiten Südvietnams unterzeichnen«. Dem nationalen Rat war aufgetragen, die Realisierung des Abkommens durch beide Seiten zu »fördern« und in Südvietnam »freie und allgemeine demokratische Wahlen« zu organisieren. Einer der großen Verhandlungserfolge von DRV und RSV war neben dem Anfangskapitel auch, den Artikel 13 im vierten Kapitel durchzusetzen: »Die Frage der vietnamesischen bewaffneten Kräfte in Südvietnam ist von beiden südvietnamesischen Seiten (…) zu regeln.« Das bedeutete nicht weniger, als die zur Unterstützung der RSV-Streitkräfte aus dem Norden entsandten starken Einheiten der Volksarmee als Teil der bewaffneten Kräfte der einen Seite zu betrachten und ihre Anwesenheit im Süden nicht in Frage zu stellen.
Kapitel V, Artikel 15 enthält Bestimmungen, die für DRV und RSV einen schmerzhaften Kompromiss bedeuteten, insofern sie für Südvietnam die Existenz einer weiteren gleichberechtigten Administration vertraglich ausdrücklich akzeptierten. Nord- und Südvietnam sollten »Schritt für Schritt mit friedlichen Mitteln auf der Basis von Diskussion und Abkommen« auf ihre Wiedervereinigung hinarbeiten und den Zeitpunkt dafür vereinbaren. Bis zur Wiedervereinigung sollte es eine »militärische Demarkationslinie zwischen den beiden Zonen am 17. Breitengrad« geben, die »nur provisorisch und keine politische oder territoriale Grenze« sein werde, »wie in Paragraph 6 der Schlusserklärung der Genfer Konferenz von 1954 vorgesehen«.⁷ Beide Seiten wurden verpflichtet, die »Modalitäten des Zivilverkehrs« über die Demarkationslinie zu verhandeln.
Kapitel VI, Artikel 16 beauftragte die Verhandlungsparteien, »unverzüglich (…) eine vierseitige gemeinsame Militärkommission zu bilden«, die alle militärischen Fragen in bestimmter Frist regeln sollte. Artikel 17 forderte von beiden südvietnamesischen Seiten, eine »zweiseitige gemeinsame Militärkommission« zu berufen, die tätig werden sollte, sobald die vierseitige Kommission ihre Arbeit beendet hat. Artikel 18 sah vor, dass »sofort eine internationale Kontroll- und Überwachungskommission eingesetzt« werden sollte.⁸ Artikel 19 bestimmte die »Einberufung einer internationalen Konferenz« binnen 30 Tagen nach Unterzeichnung des Abkommens, »um die unterzeichneten Abkommen zu bestätigen«.⁹ Kapitel VII betraf Fragen einer Friedensregelung in den beiden anderen indochinesischen Ländern Kambodscha und Laos.
Auf ihr Erfolgskonto konnte die DRV auch Kapitel VIII verbuchen, dessen Artikel 21 lautet: »Die Vereinigten Staaten gehen davon aus, dass dieses Abkommen eine Ära der Versöhnung mit der Demokratischen Republik Vietnam sowie mit allen Völkern Indochinas einleitet. In Übereinstimmung mit ihrer traditionellen Politik werden die Vereinigten Staaten zur Heilung der Wunden des Krieges und zum Nachkriegsaufbau in der Demokratischen Republik Vietnam und in ganz Indochina beitragen.« Das geschah allerdings nicht.¹⁰
Obstruktionen und Verzögerungen
Nicht aus Friedensliebe hatten sich die USA zu Verhandlungen durchgerungen, sondern unter Zwang. Sie wollten das mittlerweile hart bedrängte Regime in Saigon vor dem Kollaps bewahren¹¹ und ihre einzige Bastion auf dem asiatischen Festland nicht verlieren. Sie hatten bereits schmerzhafte Verluste an Menschen und Material im Süden wie im Norden zu verzeichnen und wollten der Antikriegsbewegung auch im eigenen Land den Wind aus den Segeln nehmen. Am 12. Mai 1968 hatten in Paris vorbereitende Gespräche zwischen beiden Seiten begonnen, nachdem Hanoi einer Offerte von US-Präsident Lyndon B. Johnson zugestimmt hatte. Nachdem der am 31. Oktober die bedingungslose Einstellung aller Kriegshandlungen gegen Nordvietnam angeordnet und eine Vier-Parteien-Konferenz zur »Regelung der Vietnam-Frage« befürwortet hatte, erklärte sich Hanoi am 2. November dazu bereit.¹² Im November gewählt und ab Januar 1969 im Amt, machte Präsident Richard Nixon sofort und unmissverständlich klar, dass der Kurs seines Amtsvorgängers für ihn nicht galt. Er setzte nach eigenem Bekunden auf »Krieg für den Frieden«. 1971 gab es wieder Provokationen aus der Luft gegen die DRV, bald neue Jagdbomberangriffe auf Gebiete Nordvietnams.
Die Verhandlungen, für die Vertraulichkeit vereinbart worden war, nahmen dennoch ihren Lauf, wenn auch nicht ohne Obstruktion, Verzögerungsmanöver und falsche Beschuldigungen gegen die DRV seitens der US-Delegation. Zwar gab es Anfang 1972 trotz allem Anzeichen dafür, dass ein Friedensschluss Konturen annehmen könnte, doch am 1. Februar musste die DRV-Delegation mit einem Kommuniqué »Zu der einseitigen Enthüllung des Inhalts der vertraulichen Gespräche durch Nixon« Alarm schlagen. Der US-Präsident und sein Verhandlungsführer Henry Kissinger hatten versucht, der Delegation guten Willen vorzutäuschen und die Verantwortung für den schleppenden Verlauf auf die DRV abzuwälzen. Sie bezichtigten die Gegenseite des groben Vertrauensbruchs und der Entstellung der Tatsachen. Eine solche Handlungsweise hatte es allerdings nicht zum ersten Mal gegeben. Am 3. November 1969 beispielsweise hatte Nixon einen vertraulichen Briefwechsel mit Präsident Ho Chi Minh publik gemacht.
Am 25. März 1972 beklagte das Außenministerium in Hanoi, der US-Präsident betreibe eine »schwerwiegende Sabotage« an der Pariser Konferenz. Nixon habe persönlich angewiesen, die Verhandlungen für unbestimmte Zeit auszusetzen. Seine Begründung: Die vietnamesische Seite verhandle nicht ernsthaft und nutze die Konferenz für ihre Propaganda. Dabei beließ er es nicht. Auf seinen Befehl hin fielen in der Nacht zum 16. April völlig überraschend strategische B-52-Bomber über die Hafenstadt Haiphong 100 Kilometer östlich der Hauptstadt Hanoi her. Das Flächenbombardement hinterließ in der Innenstadt 886 Tote und 1.108 Verletzte. Trotzdem wurden die Verhandlungen in den folgenden Monaten fortgesetzt, von deren Stand war aber offiziell nichts zu vernehmen. Die vietnamesische Seite ließ dank einer starken Verhandlungsposition keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit, die Gegenseite zu einem Friedensschluss zu zwingen.
Anfang Oktober näherte sich das verbissene Tauziehen zwischen den Delegationen der DRV und der USA als Hauptverhandlungspartner dem Ende. Die Chefunterhändler Le Duc Tho und Kissinger waren sich im Prinzip einig über den Inhalt eines Friedensabkommens. Wie es amtlich hieß, hatte man vereinbart, den Text am 22. Oktober in Hanoi zu paraphieren und das Abkommen dann am 30. Oktober in Paris von den Außenministern beider Seiten signieren zu lassen. Vorgesehen war auch die Unterzeichnung eines identischen Textes durch die Außenminister der RSV und Saigons. Doch plötzlich machte die Saigoner Delegation heftig Front gegen die Südvietnam betreffenden Artikel. Es darf angenommen werden, dass Washington das nicht als willkommenen Anlass für seine Verweigerungshaltung genommen hat, sondern dass Saigon mit voller Absicht von der Leine gelassen wurde. Die USA stellten prompt das ganze Abkommen und das vereinbarte Kalendarium in Frage. Ihre Delegation präsentierte 126 Abänderungsverlangen und forderte neue Verhandlungen. Washington dürfte klar gewesen sein, dass die DRV ein derart dreistes Ansinnen entschieden zurückweisen würde. Der Verhandlungsprozess kam zum Erliegen, die Delegationschefs verließen den Konferenzort.
Am 30. November informierte die Presseabteilung des DRV-Außenministeriums über den mehrjährigen Verhandlungsprozess, die Verhandlungsposition der DRV, die Manöver des wortbrüchigen Partners und die Sabotage der Saigoner Seite am Verhandlungsergebnis. Ihr Leiter Ngo Dien gab den Inhalt des von der vietnamesischen Seite noch nicht veröffentlichten Abkommens bekannt. Alles sei »sorgfältig diskutiert, jedes Wort mit der Lupe geprüft, kein Detail ausgelassen«, erklärte er. Die Versuche der Nixon-Administration, von der DRV substantielle Zugeständnisse zu erpressen, gingen derweil unvermindert weiter.
Schwerste Bombenangriffe
In zunächst geheim gebliebenen Botschaften sicherte Nixon Südvietnams Diktator Nguyen Van Thieu für den Fall, dass der vorliegende Abkommenstext nicht mehr verändert werden könne, weitere militärische Unterstützung und sogar mögliche Luftangriffe auf den Norden auch nach Inkrafttreten eines Waffenstillstands zu. Kissinger, kurzzeitig wieder in Paris, drohte am 13. Dezember der DRV »drastische Maßnahmen« an und tat vor der Presse zugleich kund, beide Seiten blieben in Kontakt und hätten noch zu entscheiden, ob es ein neues Treffen geben werde. Am folgenden Tag verlangte Washington von Hanoi ultimativ »innerhalb von 72 Stunden zu ernsthaften Gesprächen an den Verhandlungstisch zurückzukehren oder die Konsequenzen zu tragen«.¹³ Am 16. Dezember ließ Kissinger in Washington schließlich wissen, das Friedensabkommen liege zu 99 Prozent vor. Das war eines der infamsten Manöver zur Täuschung der Öffentlichkeit. Das Abkommen lag zwar in der Tat so vor, aber Washington hatte, wie sich bald zweifelsfrei erweisen sollte, nicht die geringste Absicht, es unverändert zu akzeptieren.
Trotz strengster Geheimhaltung wurde später bekannt, dass schon am Monatsanfang mit den Vorbereitungen für einen letzten, nach Washingtons Wunschträumen vernichtenden, Schlag gegen das widerspenstige Nordvietnam begonnen worden war. Aus dem Bestand von drei Luftarmeen hatte das Pazifikkommando der US-Streitkräfte eine »Special Task Force« gebildet. Am 15. Dezember stand eine gewaltige Luftstreitmacht bereit. Nixon befahl die Bombardierung des ganzen nordvietnamesischen Territoriums¹⁴, das vom 18. bis zum 29. Dezember zum Ziel beispielloser Bombardierung durch etwa 200 strategische B-52-Bomber und rund 1.100 Jagdbomber wurde. Nicht nur Hanoi und von neuem Haiphong lagen unter verheerenden Flächenbombardements. Die zum festen Begriff gewordenen »Zwölf Tage und Nächte« in der zweiten Dezemberhälfte künden von den mit großem Abstand schwersten Bombenangriffen auf Nordvietnam seit 1965.
Vietnams Führung hatte aber trotz des kriminellen Vorgehens des Verhandlungspartners in Anbetracht des vorliegenden, für sie unabänderlichen Entwurfs des Abkommens allen Grund, das Interesse an Weiterführung und Abschluss der Verhandlungen zu bekunden. Trotz des Verbrechens vom Dezember trafen beide Chefunterhändler am 8. Januar 1973 in Paris wieder zusammen. Am folgenden Tag einigten sie sich auf eine Vereinbarung, wie sie nahezu wortgleich schon im Oktober vorgelegen hatte. Washington hatte noch ein paar kosmetische Korrekturen, aber nicht die geringste substantielle Änderung mehr erpressen können. Am Ende eines mehrjährigen verbissenen Verhandlungspokers, gepaart mit anmaßenden Drohgebärden und militärischen Machtdemonstrationen der USA, stand, weltweit begrüßt, das am 27. Januar unterzeichnete »Abkommen über die Beendigung des Krieges und die Wiederherstellung des Friedens in Vietnam«.
Fortsetzung des Krieges
Schnell zeigte sich, was die Unterschriften wert waren. Nixon machte gleich deutlich: »Der amerikanische Rückzug aus Vietnam bedeutet keine Veränderung der Interessen der Vereinigten Staaten, sondern nur eine Veränderung in der Art, sie durchzusetzen.« Das ganze Jahr 1973 und auch das Folgejahr zeigten einen skrupellosem Bruch des Abkommens, vielfach auch von amerikanischen Medien dokumentiert.¹⁵
Die Militärstützpunkte der USA wurden nicht aufgelöst, sondern samt Ausrüstung an Saigons Armee übergeben. Die Kommandozentralen in etlichen Städten bekamen den Anstrich von Generalkonsulaten. Das Militär wurde durch rund 25.000 Militärangehörige (Stand 1974) in Zivil bzw. durch bloß pro forma Demobilisierte unter Vertrag des Pentagons als »Berater« ersetzt. Die US-Botschaft in Saigon, Anfang 1974 Unterkunft für 3.288 Personen, wurde im eigenen Land als »Ost-Pentagon« tituliert.¹⁶ Die Armee Saigons erhielt von Ende Januar bis Juli 1974 rund 700 Hubschrauber und Kampfflugzeuge, etwa 200 Schiffe und Boote, 800 Geschütze, 1.100 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, über eine Million Tonnen Bomben und Munition sowie zwei Millionen Tonnen Treibstoff.¹⁷ Mit der Hilfe verfolgten die USA »das Ziel des Krieges und nicht des Friedens«, so Senator Edward Kennedy am 8. Juli 1974. Die Minenräumung im Norden wurde unter fadenscheinigen Vorwänden stark verzögert. Die Internationale Kontroll- und Überwachungskommission war zur Untätigkeit verdammt.
Die Truppen Saigons ignorierten den Waffenstillstand. Sie attackierten von Anfang an und immer stärker von der RSV kontrolliertes Gebiet.¹⁸ Das DRV-Außenministerium bilanzierte Ende 1973 neben vielen tausend anderen Abkommensverletzungen 35.000 »militärische Übergriffe«, davon »37 auf Divisionsebene und 5.250 auf Regimentsebene«. Völlig ignoriert wurden Kapitel IV und V des Abkommens: Es gab keine Gespräche zwischen beiden südvietnamesischen Seiten. Monate verstrichen, ehe die vielen tausend in Konzentrationslagern und Gefängnissen unter unmenschlichsten Bedingungen vegetierenden »Vietcong«, Partisanen und viele auch grundlos aktiver Sympathie für die Befreiungskräfte verdächtigte Zivilisten, die Freiheit erlangten. Den Süden überflutete eine Terrorwelle.
Am 14. Oktober erhielten die Befreiungsstreitkräfte¹⁹ von ihrem Oberkommando den Befehl, für die Respektierung des Abkommens jeden kriegerischen Akt der Saigoner Truppen energisch zu beantworten. Was weder von Washington noch von Saigon begriffen worden war: Ihre vom keineswegs blauäugigen Hanoi erwartete Sabotage am Abkommen konnte für sie nur ein Bumerang sein. Das Kräfteverhältnis machte die Lage in Vietnam unumkehrbar. Schon mit den ersten Schritten zur Hintertreibung der vereinbarten Friedenslösung haben die Phantasten an Potomac und Saigon-Fluss selbst den 30. April 1975, den Tag der endgültigen Befreiung Saigons, heraufbeschworen.
Anmerkungen
1 Im folgenden zitiert nach »Wortlaut des Abkommens …«, Solidaritätskomitee der DDR – Vietnam-Ausschuss, Berlin, und »L'Accord de Paris sur le Vietnam«, Hanoi 1973
2 Unter Bruch der Genfer Abkommen von 1954 hatten die USA ihre Handlanger unter Ngo Dinh Diem im Oktober 1955 in Saigon für die Südhälfte Vietnams eine »Republik Vietnam« proklamieren lassen und damit das Land gespalten.
3 zitiert nach: »Dokumente, Fakten, Argumente – Protokolle zum Abkommen …«, Zeitung Horizont, Berlin, Nr. 8/1973
4 Dem Abkommen entsprechend sollten in beiden, durch eine zeitweilige Demarkationslinie zu trennenden Landesteilen »im Laufe des Jahres 1956 allgemeine Wahlen unter Kontrolle einer internationalen Kommission durchgeführt werden«, worüber »die zuständigen repräsentativen Behörden beider Zonen ab dem 20. Juli 1955 beraten« werden. Unter der Schutzmacht USA wurde das von Saigon torpediert.
5 US-Präsident Nixon hatte am 9. Mai 1972, nach eigener Ankündigung am Vortag, die »Hoheitsgewässer, Hafengewässer, Häfen und Wasserstraßen der Demokratischen Republik Vietnam« (Artikel 2) aus der Luft verminen lassen, um Nachschub aus dem Norden für die Befreiungstruppen im Süden auf dem Seeweg unterbinden zu können.
6 An der Seite der US-Truppen standen 50.000 südkoreanische, mehr als 2.000 thailändische sowie mehr als 10.000 Soldaten aus Australien, Neuseeland und den Philippinen.
7 Diese Demarkationslinie wurde seither von Medien, Politikern und sogar Historikern tatsachenwidrig als »Grenze« zwischen Nord- und Südvietnam, als Grenze zwischen zwei Staaten ausgegeben. Die auf Drängen der UdSSR unmittelbar nach dem Ende der Schlacht von Dien Bien Phu einberufene Genfer Indochinakonferenz hatte eine solche Demarkationslinie etwa in der Mitte Vietnams lediglich für die Umgruppierung der Truppen beschlossen. Die Einheiten der DRV-Volksarmee hatten die Südhälfte zu verlassen, die französischen Truppen und ihre vietnamesischen Hilfskräfte die Nordhälfte.
8 Die Internationale Kontroll- und Überwachungskommission (IKÜK) wurde aus Offizieren Polens, Kanadas, Indonesiens und Indiens gebildet.
9 Auf Vorschlag von DRV und USA sollten neben den beiden anderen Parteien China, Frankreich, die Sowjetunion, Großbritannien, die Länder der IKÜK und der UN-Generalsekretär an der Konferenz teilnehmen. Die Konferenz endete am 2. März 1974 und bekräftigte, allerdings folgenlos, das Abkommen.
10 Dieser Beitrag wurde nach 1973 nie geleistet. Statt dessen wurde die DRV nach dem Fall Saigons am 30. April 1975 mit einer fast zwei Jahrzehnte währenden rigorosen Embargo- und Blockadepolitik »bestraft«. Erst Anfang der 1990er Jahre kam es zu offiziellen Gesprächen zwischen Washington und Hanoi, 1995 wurden bilaterale Beziehungen aufgenommen.
11 Eine Ende Januar 1968 eingeleitete machtvolle Offensive der Befreiungsstreitkräfte, als Tet-Offensive bekannt geworden, hatte das Saigoner Regime erstmals in seinen Grundfesten erschüttert.
12 Die DRV hatte die Teilnahme der Nationalen Befreiungsfront (FLN) Südvietnams (später der Republik Südvietnam – RSV) an Verhandlungen durchgesetzt, musste aber auch die Teilnahme Saigons akzeptieren. Das bedeute aber keine Anerkennung dieses Regimes.
13 Rolf Steininger: Der Vietnamkrieg, Frankfurt a. M. 2006, S. 38
14 Nordvietnam erstreckte sich damals vom 17. bis zum 23. Breitengrad.
15 Im Detail nachzulesen in meinem Buch »Unser Volk wird gewiss siegen. 30 Jahre Überlebenskampf Vietnams im Rückblick«, Verlag Wiljo Heinen, Berlin 2015, Seiten 264 bis 280, fast durchweg gestützt auf US-Medien.
16 U.S. News & World Report im Februar 1974
17 Information des dank hervorragender Aufklärung stets sehr gut informierten RSV-Außenministeriums
18 Die befreiten Gebiete umfassten schon mehr als die Hälfte des Territoriums Südvietnams.
19 Es handelte sich um die Truppen der RSV und Einheiten der Vietnamesischen Volksarmee, die gemeinsam als Volksbefreiungsstreitkräfte (FAPL) operierten.
Hellmut Kapfenberger schrieb an dieser Stelle zuletzt am 20. September 2020 über die Vorgeschichte der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sozialistischen Republik Vietnam.
Drei Wochen kostenlos lesen
Wir sollten uns mal kennenlernen: Die Tageszeitung junge Welt berichtet anders als die meisten Medien. Sie bezieht eine aufklärerische Position ohne Besserwisserei und wirkt durch Argumente, Qualität, Unterhaltsamkeit und Biss.
Testen Sie jetzt die junge Welt drei Wochen lang (im europäischen Ausland zwei Wochen) kostenlos. Danach ist Schluss, das Probeabo endet automatisch.
Ähnliche:
- imago images/Hans Lucas11.05.2021
Chemische Kriegführung gewinnt
- Paul Almasy/akg-images/picture alliance22.09.2020
Verdrängte Vorgeschichte
- Rüdiger Schrader/Roland Holschneider/dpa11.12.2019
Atomarer Rollback