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Aus: Ausgabe vom 26.11.2025, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Die Lüge glänzt

Ricarda-Huch-Poetikdozentur der TU Braunschweig: Lyrikerin Nora Gomringer hielt ihre Antrittsvorlesung
Von Frank Schäfer
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Kann auch auf den Putz hauen: Lyrikerin Nora Gomringer

Ricarda Huch dürfte allenfalls noch Germanisten ein Begriff sein mit ihrem Buch über »Die Romantik« und natürlich den Braunschweiger Lokalpatrioten, weil sie hier geboren und aufgewachsen ist. Seit einiger Zeit hat aber auch die feministische Literaturgeschichtsschreibung ein Auge auf sie geworfen. Huch wurde als eine der ersten Frauen im Fach Geschichte promoviert, schlug sich im männlich dominierten Kulturbetrieb des Kaiserreichs als Schriftstellerin durch und ist mit ihren für damalige Geschmäcker ziemlich schlüpfrigen Liebesgedichten sogar in Haffmans’ maßgeblichem »Handbuch der lyrischen Hocherotik deutscher Zunge« vertreten. Als Feministin avant la lettre versucht sie auch, die TU Braunschweig zu profilieren mit ihrer Ricarda-Huch-Poetikdozentur, einer Vortragsreihe, in der vor allem zeitgenössische Autorinnen mit emanzipatorischer Agenda dem geneigten Publikum die eigene Kunst erklären sollen.

In diese Traditionslinie darf man die diesjährige Poetikdozentin Nora Gomringer allemal stellen. Gomringer hat Verse über Monatsblutungen (»Monstruation«) oder den männlichen Blick geschrieben und die Kirche als geschützten Raum des Patriarchats kritisiert, aber eben auch stets dafür gesorgt, dass der Spaß dabei nicht auf der Strecke bleibt. Ihre Texte sind sprachspielerisch bis zur Kalauerrei, selbstironisch, pointenreich, also eher Ausnahmen in der von »Ernstlern« bevölkerten Lyrikszene. Schon der Titel ihrer Reihe, »Der Besuch der mittelalten Dame«, besitzt dieses verschmitzte Augenzwinkern, dem noch weitere folgen werden an diesem Abend.

Gomringer hat zunächst bei Poetry Slams reüssiert, und auch wenn sie dieser Szene bald entwächst, bleibt sie Performancekünstlerin. Es geht ihr nie nur um das gedruckte, sondern immer auch um das gesprochene, gesungene, gelallte, gejaulte Wort. Sie arbeitet im besten Sinne interdisziplinär und überschreitet ohne Scheuklappen die Grenzen zwischen Literatur und der bildenden Kunst, der Musik und dem Film. Dass sie auch richtig auf den Putz hauen kann, beweist sie in »Peng Peng Peng«, ihrer Kollaboration mit dem Jazzschlagzeuger Philipp Scholz. Schwer zu sagen, ob man sie trotz oder gerade wegen ihrer formalen Randständigkeit mit einer fast schon unanständigen Menge an Preisen und Stipendien bedacht hat. Von den diversen Gastprofessuren und Poetikdozenturen gar nicht zu reden – in Ohio, Sheffield, Kiel, Koblenz-Landau und nun also Braunschweig. Nur die kulturellen Metropolen.

Wer also von ihrer Antrittsvorlesung am 20. November eine akademisch gut abgehangene, die eigene Sprachkunst sezierende Analyse erwartet hatte, kennt Gomringers Werk nicht. Sie assoziiert sich vielmehr recht frei durch ihr Leben, deklamiert dazu passende eigene Gedichte oder Texte aus ihrer lyrischen Hausapotheke von Christine Lavant, Thomas Bernhard, Annette von Droste-Hülshoff oder Selma Meerbaum-Eisinger und hängt schließlich doch noch ein paar heitere Reflexionen über das Schreiben an.

Sie spricht vom Sterben der Eltern, wie der Kummer die eigene Literatur »frisst«, wie das Dichten und sogar das Lesen verschwinden und sie sich ihre Trauer erst einmal ganz prosaisch von der Seele schreiben muss. Daraus entsteht dann ihr anrührendes Memoir »Am Meerschwein übt das Kind den Tod«, ein »Nachrough« auf ihre Mutter, bei dem ihr berühmter, meistens abwesender, höchst promiskuitiver und entsprechend schwieriger Vater, der Avantgardelyriker und Erfinder der Konkreten Poesie Eugen Gomringer, aber eigentlich die Hauptrolle spielt.

Sie erzählt von ihren Selbstzweifeln als Autorin, die sich ständig im Verdacht hat, keine Autorin zu sein. Sie berichtet von der Scham gegenüber ihren Übersetzern, die jeden ihrer Fehler bemerken, wovon der Text und die Dichterin allerdings auch ungemein profitieren. Und sie spricht schließlich auch, und das ist vielleicht das Überraschendste an ihrem unterhaltsamen Vortrag heute Abend, von der Ermüdung an der eigenen Sprache und von der Ernüchterung, dass ihr nur dieses begrenzte Sprachmaterial zur Verfügung steht – und sie mit dieser Wahrheit jetzt leben muss.

So schlimm kann das nicht sein. Während wir hinaus müssen und uns auf die klapprigen Fahrräder schwingen, um in die tristen Braunschweiger Suburbs zu eiern, zu unseren hungrigen, schreienden Kindern, steigt sie in ihren Ferrari, so hat sie es zuvor angekündigt, und braust mit ihm durch die Nacht. »Die Lüge glänzt«, hat die Mutter ihr früh eingeschärft.

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