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Aus: Ausgabe vom 04.09.2025, Seite 10 / Feuilleton
Lyrik

Das Wie des Schreibens

Zum zehnten Todestag des Schriftstellers Rainer Kirsch
Von Kai Köhler
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Mögliches erfahrbar machen: Rainer Kirsch (17.7.1934–4.9.2015)

»Sahen Sie A.s neustes Stück?« – »Eben gestern.« – »Ja prachtvoll! Wie ist es?« / »Ganz ein Spiegel der Welt.« – »Wie! Schreibt auch A. jetzt so schlecht?« So lautet das erste von Kirschs »Zwei Distichen über das Theater«. Der Dialog klingt wie von heute, tatsächlich ist das Gedicht auf den April 1980 datiert.

Im lyrischen Werk Kirschs findet sich vieles, das gedankenreicher, klangvoller, sinnlicher und vielschichtiger ist. Warum also – außer aus Platzgründen – dieser knappe Text als Einleitung? Weil er in mehrerlei Hinsicht auf die Ästhetik des Dichters verweist. So greift Kirsch hier die überkommene Gattung des Distichons auf, verwandelt sie aber durch auffällige rhythmische Unregelmäßigkeiten, die durch den Inhalt bedingt sind. Laut zu lesen hilft. Die Eingangsfrage besteht aus zwei Einheiten: Nach drei beziehungsweise zwei unbetonten Silben folgt jeweils eine betonte. Es hätte statt »neuste« auch konventioneller »neueste« heißen können. So wäre die Regelmäßigkeit gewahrt worden. Doch durch die Verkürzung bekommt die Frage etwas Drängendes, das durch die maulfaul-mürrische, jedem Metrum Hohn sprechende Antwort ausgebremst wird. Der Frager lässt sich dadurch nicht entmutigen, stößt mit einer rhythmisch gespannten Äußerung nach, die neben der »pracht« auch das »wie« Stückes akzentuiert. Der zweite Vers beginnt mit der zweiten Antwort, mit eher gleichgültigem Gestus hingeworfen. Auf die schwere Silbe »Welt« folgt hart der ebenfalls betonte Ausruf »Wie!«, der das Fazit einleitet.

Und dieser Schluss ist auf zweifache Weise zu verstehen. Wichtig dabei ist, dass man sich nicht je nach Vorliebe für die eine oder die andere entscheiden kann, sondern es beide zusammenzudenken gilt. Wenn erstens das Abspiegeln der Welt schlechte Kunst ergibt, liegt der Gedanke nahe, dass die Welt nicht eben erfreulich ist. Wenn aber zweitens der Vorwurf lautet, dass A. schlecht schreibe, dann heißt dies, dass er die Aufgabe der Kunst missversteht; sogar A., denn das »auch« legt nahe, dass vor ihm oder ihr schon viele andere schlecht geschrieben haben.

Die Aufgabe der Kunst ist nach Kirsch nun aber nicht, eine schlechte Welt zu verklären, sonst hätte er, neben vielem anderen, kaum dieses Distichon geschrieben. Kunst soll die Welt nicht naturalistisch verdoppeln, nicht nur, weil dies überflüssig wäre. Die Welt ist ja schon da, und man kann sie sich angucken, ohne fürs Theater Eintritt zu zahlen. Kunst soll verdichten, Strukturen der Welt zeigen; und sie soll über das Bestehende hinausweisen, das Mögliche erfahrbar machen. Daher die vielen Liebesgedichte Kirschs, die nicht nur die sinnliche Freude im Heute oder in der Erinnerung feiern (das auch), sondern das Potential des Menschlichen erkunden.

Voraussetzung für all dies ist Wissen. Kirsch gehört zu der Minderheit von Schriftstellern, die sich vor der Beschäftigung mit Naturwissenschaften und Mathematik nicht gedrückt haben. Der Band »Kopien nach Originalen« von 1974 stellte essayistisch wichtige Forscher der DDR vor – mit ihrem Charakter, in ihrem gesellschaftlichen Umfeld, hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Leistungen. Das »mathematische Märchen« mit dem Titel »Die Perlen der grünen Nixe« erschien im Folgejahr in einer populärwissenschaftlichen Reihe des Buchverlags Junge Welt Berlin. Das Kunstmärchen vermag Kinder wie Erwachsene gleichermaßen anzusprechen. Kirsch gelang es, Handlungsführung und mathematische Lösungen auf nachvollziehbare Weise zu verknüpfen.

Zum Wissen über die Welt tritt das Wissen über das dichterische Handwerk. Inhalte beiseite, ist es ein Unterschied ums Ganze, ob man schlecht wie A. oder gut wie Kirsch schreibt. Immer wieder hat Kirsch insbesondere als Lyriker über das Wie des Schreibens reflektiert. Ein Großteil seines essayistischen Werks ist dem gewidmet, etwa wenn es sich Kollegen aus der DDR wie Karl Mickel, Richard Leising, Wulf Kirsten oder Sarah Kirsch widmet. Technik ist besonders beim Übersetzen aus Fremdsprachen wichtig, und dies war ein wichtiger Teil seines Schaffens. Kirsch übertrug Texte aus dem Russischen, Georgischen, Englischen und Französischen. Der große Essay »Das Wort und seine Strahlung« ist dieser Arbeit gewidmet und müsste heute noch überall dort auf den Schreibtischen liegen, wo Lyrik ins Deutsche übertragen wird.

Kirsch wurde 1934 geboren, in der DDR ausgebildet und geriet früh und mehrfach mit deren Kulturpolitik in Konflikt. Der Ausschluss aus der SED 1973 zeigt erstens an, dass er zuvor in die Partei eingetreten war, und zweitens, dass politische Sanktionen damals nicht eben zielgenau waren. In Kirschs Werken finden sich Hinweise auf Fehlentwicklungen in der DDR, die man hätte bedenken sollen. Es findet sich darin, auch nach 1989, kein einziges antikommunistisches Wort. So fand Kirsch seine verlegerische Heimat zuletzt beim Eulenspiegel-Verlag, der 2004 eine preisgünstige und immer noch lieferbare vierbändige Werkausgabe herausbrachte. Die Bände V bis VIII, mit Kirschs Übertragungen, sind seit vielen Jahren druckfertig gesetzt, und sollte ein Leser, wider jede Wahrscheinlichkeit, als Sponsor auftreten können, bietet sich hier eine kaum zu übertreffende Chance.

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