Schwäbischer Meister
Von Arnd Beise
Stuttgart, Moserstraße 22, Freitag, 4. Juni 1875, um acht Uhr morgens: Nach längerer Agonie stirbt der ehemalige Pfarrer und Dozent für Literatur, der Dichter Eduard Mörike, im Alter von 70 Jahren. Angeblich verbreitete sich daraufhin in der Wohnung »ein auffallender Wohlgeruch, ein kräftiger Rosenduft«, wie ihn der gerade Verstorbene besonders geliebt hätte. Es war, als sei ein Heiliger gestorben. Und vielleicht war der Verstorbene auch eine Art Heiliger, der im normalen Leben nie heimisch gewesen war? So erschien manchem schon der 19jährige Student: »Die Poesie des Lebens hat sich mir in Dir verkörpert«, schrieb ihm sein Jugendfreund Ludwig Bauer 1823: »Du bist mir schon so heilig, wie ein Verstorbener.«
Hat Eduard Mörike kein wirkliches Leben gelebt? Zumindest hatte er keine sonderliche Begabung für das »Leben«, wie der Studienfreund Friedrich Theodor Vischer – einer der bedeutendsten Literaturkritiker und Ästhetiker seiner Zeit – anlässlich der Einweihung des Stuttgarter Denkmals für Mörike 1880 festhielt: »das wirkliche Leben braucht ja noch andere Kräfte« als er sie besessen habe, nämlich »nüchterne, eiserne«; doch Mörikes »Geist« sei »weich« und »träumerisch« gewesen.
Krankheit als Auszeit
Schon der junge Mörike hatte sich, wenn die Lebensumstände ungemütlich wurden, in Krankheiten geflüchtet. Das tat er zeitlebens, und zwar immer dann, wenn er »sich den Anforderungen des Alltags entziehen« wollte, wie seine Biographin Veronika Beci schrieb: »Das Krankenlager als Rückzugsort«.
Die Krankheiten waren durchaus nicht immer eingebildet oder vorgeschoben, auch wenn sich Mörike selbst der Hypochondrie zieh. Er wusste aber Krankheiten stets zu nutzen, weil sie ihm eine »Auszeit« bescherten, die seiner Poesie zugutekam. Und Poesie war seine Therapie gegen die die Krankheit auslösenden »Angst- und Schuldgefühle«, die ihn seit seiner Jugend plagten.
In dem 1825 geschriebenen Poem (»An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang«), das Mörikes 1838 zuerst erschienene Sammlung der »Gedichte« programmatisch eröffnet, ist von den »traurigen Wände(n)« die Rede, die das Ich einsperren, in die aber »der Hirtenflöten Klänge« – also die »Wunderkräfte« der Poesie – eindringen und den »Sinn« des Ichs mit »entzückter Stärke (…) frisch zur Ferne« lenken: »Die Seele fliegt, so weit der Himmel reicht, / Der Genius jauchzt in mir«.
Das war Mörikes literarisches Programm: aus und in persönlicher Not untadelige Dichtung machen.
Seine ersten dichterischen Versuche als Schüler sind nicht bedeutend; doch bereits der Student ist ein brillanter Poet auf der Höhe seiner Formkunst, die keine weitere Entwicklung mehr kennt. Schon als 19jähriger schuf er dies Meisterwerk:
Sehet ihr am Fensterlein
Dort die rothe Mütze wieder?
Muß nicht ganz geheuer seyn,
Denn er geht schon auf und nieder.
Und was für ein toll Gewühle
Plötzlich auf den Gassen schwillt —
Horch! das Jammerglöcklein grillt:
Hinter’m Berg, hinter’m Berg
Brennt’s in einer Mühle!
Schaut, da sprengt er, wüthend schier,
Durch das Thor, der Feuerreiter,
Auf dem rippendürren Thier,
Als auf einer Feuerleiter;
Durch den Qualm und durch die Schwüle
Rennt er schon wie Windesbraut,
Aus der Stadt da ruft es laut:
Hinter’m Berg, hinter’m Berg
Brennt’s in einer Mühle!
Keine Stunde hielt es an,
Bis die Mühle borst in Trümmer,
Und den wilden Reitersmann
Sah man von der Stunde nimmer;
Darauf stille das Gewühle
Kehret wiederum nach Haus,
Auch das Glöcklein klinget aus:
Hinter’m Berg, hinter’m Berg
Brennt’s! —
Nach der Zeit ein Müller fand
Ein Gerippe sammt der Mützen,
Ruhig an der Kellerwand
Auf der beinern’ Mähre sitzen.
Feuerreiter, wie so kühle
Reitest du in deinem Grab!
Husch! da fällt’s in Asche ab —
Ruhe wohl, ruhe wohl,
Drunten in der Mühle!
Unter dem Titel »Der Feuerreiter« wurde das 1824 geschriebene und 1832 erstmals publizierte Gedicht kanonisiert. Unheimlich ist die Uneindeutigkeit: Ist der Feuerreiter eine Melder- oder Helferfigur; einer, der mit dem Feuer spielt oder ihm zum Opfer fällt, ein Aufrührer oder ein Anhänger der alten Ordnung?
Dass eine politische Ausdeutung nicht von der Hand zu weisen ist, macht eine weitere, später von Mörike in der Mitte eingefügte Strophe deutlich:
Der so oft den rothen Hahn
Meilenweit von fern gerochen,
Mit des heil’gen Kreuzes Spahn
Freventlich die Gluth besprochen —
Weh! dir grinst vom Dachgestühle
Dort der Feind im Höllenschein.
Gnade Gott der Seele dein!
Hinter’m Berg,
Hinter’m Berg
Rast er in der Mühle!
Politische Distanz
Angeblich soll die »Mütze« des wahnsinnig gewordenen ehemaligen Jakobiners Friedrich Hölderlin, die hinter den Fenstern seines Zimmers in dem Tübinger Turm, den er seit 1807 bewohnte, »unruhig (…) hin und her lief«, der Ausgangspunkt für Mörikes dichterische Phantasie gewesen sein – so der zeitweilig engste Freund Rudolph Lohbauer, ein radikaler Burschenschaftler. Dann wäre die »rothe Mütze« also eine Jakobinermütze?
Mörike studierte 1822 bis 1826 Theologie am Tübinger »Stift«. Wie die Studenten eine Generation früher – Hegel, Schelling und eben Hölderlin – sich für die Französische Revolution begeisterten, so Anfang der 1820er Jahre der Kreis, in dem sich Mörike bewegte, für die Ideen der radikalen Burschenschaftler; Karl Ludwig Sand, der 1819 den russischen Staatsrat und Schriftsteller August von Kotzebue als »Vaterlandsverräter« erdolcht hatte, galt diesen als patriotischer Held.
Mörike freilich distanzierte sich bald von dem politischen Fanatismus der Kommilitonen. »Ich mußte den Sand von jeher wegen seiner echten, guten Gesinnung lieben, ich gesteh aber, daß so manch eisenfresserischer Studiosus mit ihrem kindischen Geschrei oder vermeintlichen Enthusiasmus, wie er sich besonders in den Stunden des Weins bei manchem Lümmel, der nicht weiß, was er will, in Lobeserhebungen Sands zu äußern pflegt, mir das Gute und Wahre, das ich an dergleichen Dingen fand, verkümmerte, so daß mir nicht selten ein eigener Widerwille aufsteigt, wenn ich von Sand rühmlich sprechen höre« (Brief an Wilhelm Waiblinger, Februar oder März 1822).
Fortan zog sich Mörike zurück; das Leben in Gesellschaft behagte ihm nicht. Fürderhin wird er es nur noch beobachten und dichterisch kommentieren, nicht aktiv daran teilhaben.
In die Tübinger Studienjahre fällt ein weiteres einschneidendes Erlebnis, »eine lebensgefährliche, Mörike tief bedrohende Begegnung« (Helmut Koopmann). In seiner Geburtsstadt Ludwigsburg lernen er und sein Freund Lohbauer in den Osterferien 1823 ein »Schenkmädchen« (Kellnerin) namens Maria Meyer kennen, für die beide in Liebe entbrennen. Die Schweizerin muss eine außergewöhnliche Schönheit gewesen sein und eine faszinierende, geheimnisvolle Ausstrahlung besessen haben. Sie umgarnt den jungen Dichter, er verfällt ihr. Viele sehen in ihr die »einzige, wirkliche und leidenschaftliche Liebe« (Birgit Mayer) in Mörikes Leben und einen wesentlichen Stimulus seines Dichtertums. Die Affäre nahm jedenfalls ein tragisches Ende, ohne dass wir wüssten, was genau vorgefallen ist. Alle Zeugnisse sind verloren. Mörike sagte sich jedenfalls von ihr los, verwandelte sie in eine literarische Figur: die »Zigeunerin« Elisabeth in dem Roman »Maler Nolten«, die »Peregrina« seiner Lyrik. »Ihr Leben, so viel ist gewiß, hat aufgehört, in das meinige weiter einzugreifen als ein Traum, den ich gehabt, und der mir viel genützt«, schreibt er Ende Januar 1824 seiner Schwester Luise, die ihm wegen dieses Verhältnisses heftige Vorwürfe gemacht hatte, da sie seine »Reinheit« in Gefahr sah. Mörike rettete sich, indem er Meyer »in ein Traumgespinst verwandelt«, so der Biograph Ehrenfried Kluckert: »War der Schmerz so groß und nur noch erträglich, wenn die Wirklichkeit ausgeblendet wurde? (…) Der Traum erwies sich als ›nützlich‹, denn er vertrieb den Schmerz, indem er die wunde Dichterseele inspirierte. Enttäuschung und Verzweiflung wurden kompensiert im poetischen Wort.«
Ein Irrsal kam in die Mondscheinsgärten
Einer einst heiligen Liebe,
Schaudernd entdeckt’ ich verjährten Betrug;
Und mit weinendem Blick, doch grausam
Hieß ich das schlanke,
Zauberhafte Mädchen
Ferne gehen von mir.
Ach, ihre hohe Stirn,
Drin ein schöner, sündhafter Wahnsinn
Aus dem dunkelen Auge blickte,
War gesenkt, denn sie liebte mich.
Aber sie zog mit Schweigen
Fort in die graue,
Stille Welt hinaus.
Seit Jahren gewohnter (»verjährter«) Betrug ihrerseits desillusioniert den Liebenden; das Ich verstößt die »heilige Sünderin« (so nannte sie Mörikes enger Freund Ludwig Bauer) und leidet darunter mehr als sie. In einer späteren Fassung des Gedichts heißt es dann bündig:
Krank seitdem,
Wund ist und wehe mein Herz.
Nimmer wird es genesen!
Produktiver Schmerz
Mörike kam im »wirklichen Leben« nie mehr auf diese Affäre zurück. 1843 sprach er brieflich von »einer Noli me tangere-Vergangenheit«. In dichterischer Hinsicht war die »Herzenskatastrophe« (Hans Egon Holthusen) aber höchst produktiv. Im Juni 1828 reflektierte Mörike die Sache noch einmal in einem Sonett:
Die treuste Liebe steht am Pfahl gebunden,
Geht endlich arm, zerrüttet, unbeschuht,
Dieß kranke Haupt hat nicht mehr wo es ruht,
Mit ihren Thränen nezt sie bittre Wunden.
Ach, Peregrinen hab’ ich so gefunden!
Wie Fieber wallte ihrer Wangen Gluth,
Sie scherzte mit der Frühlings-Stürme Wuth,
Verwelkte Kränze in das Haar gewunden.
Wie? Solche Schönheit konnt’ ich einstverlassen?
— So kehrt nun doppelt schön das alte Glück!
O komm! in diese Arme dich zu fassen!
Doch wehe! Welche Miene, welch’ ein Blick?
Sie küßt mich zwischen Lieben, zwischenHassen,
Und wendet sich und — kehrt mir nie zurück.
Nun ist nicht mehr klar, wer hier wen verlassen hat. Die leidenschaftliche Liebe verbindet beide, das Ich und Peregrina, zu einer kaum mehr aufzuschließenden Gemeinschaft, bei der nicht zu sagen ist, wessen Haupt und Wunden hier besungen werden.
Der schon erwähnte Vischer rühmte am 6. Juni 1875 am offenen Grab des verstorbenen Freunds dessen Fähigkeit, sich poetisch in »jeden«, auch »fremden Zustand«, hineinversetzen zu können: »in alles und jedes, was Menschen sind und leben und leiden, und auch in die arme dunkle Seele der sprachlosen Kreatur. Er verstand jede Stimmung, er fand die Gedanken, wenn sie kaum auf die Lippen traten. Dies Versetzen, Eingehen, Theilen, Geben und Wiedergeben (…), dies zusammen schuf ein Ganzes, das rings um ihn alle Gemüther in einen Strom des Wechselverkehrs tauchte, der einzig war«.
Als Mörike das Sonett über seine unselige Liebe zu Meyer schrieb, erlebte er gleichzeitig einen unbeschwerten Frühling »nimmersatter Liebe« (die nur »mit Küssen nicht zu stillen« war) mit einer Unbekannten, angeblich einer Lehrerstochter im württembergischen Scheer, die er »Josephine« nannte und deren erotische Sensationen er auch aus ihrer Perspektive besang:
Was im Netze? Schau einmal!
Aber ich bin bange;
Greif’ ich einen süßen Aal?
Greif’ ich eine Schlange?
Lieb’ ist blinde
Fischerin;
Sagt dem Kinde,
Wo greift’s hin?
Schon schnellt mir’s in Händen!
Ach Jammer! o Lust!
Mit Schmiegen und Wenden
Mir schlüpft’s an die Brust.
Es beißt sich, o Wunder!
Mir keck durch die Haut,
Schießt’s Herze hinunter,
O Liebe! mir graut!
Was thun, was beginnen?
Das schaurige Ding,
Es schnalzet da drinnen,
Es legt sich im Ring.
»Alles nur kein Geistlicher!«
Aber auch die Liebe zu »Josephine« blieb ein vorübergehendes Intermezzo, wie Mörikes Versuch desselben Jahrs 1828, sich als freier Schriftsteller zu etablieren. Dem jungen Vikar war seine Bestimmung plötzlich zweifelhaft geworden: »Das geistliche Leben (…). Ich bin nun überzeugt, es taugt nicht für mich« (an Ludwig Bauer, 9. Dezember 1827). Was wolle er werden, fragt er sich: »Alles nur kein Geistlicher!« schreibt er im Februar 1828 an den Freund Johannes Mährlen. Schon drei Monate vorher hatte er Bauer jubelnd angezeigt, dass er vom Konsistorium Urlaub erhalten habe; und was »die Poësie betrifft, so habe ich sie indessen mit mehr Ernst und Hoffnung ins Auge gefaßt. Ich glaube endlich doch daß diß das einzige ist, worinn ich etwa noch etwas Gutes thun kann, wenn ich mirs ein ordentliches Geschäft seyn lasse«.
Doch genau das gelang ihm nicht: »ein ordentliches Geschäft« aus der Poesie zu machen. Weder als Bibliothekar noch als Kanzlist, als Sekretär oder als Mitarbeiter des Cotta-Verlags oder einer Zeitschrift aus dem Haus der Brüder Franckh vermochte er Fuß zu fassen. Das literarische Tagesgeschäft überforderte ihn, er »sah voraus«, er »würde von dem Erzählungenschreiben bald Bauchweh bekommen, ärger als je vom Predigtmachen«. Also fasste er den Entschluss, wieder ins Vikariat zurückzukehren. Fast ein Jahr nach seinem Auf- und Ausbruch verkündete er Mährlen im Dezember 1828:
»Liebster M! Eine Neuigkeit, – die Dir im ersten Augenblick sehr wunderlich, im zweiten aber höchst begreiflich vorkommen wird. Der ganze Franckh’sche Handel wird wieder von mir aufgesteckt. Ich bin die lezten Wochen her fast krepirt vor Ekel an der Sache und vor Zorn: über die Blindheit worin ich mich bereden konnte, daß ich mir jemals, auch nur ein Viertel-Jahr bei diesem Geschäft gefallen könnte, ohne daß meine Poësie sich die Schwindsucht dabei hole. Denk Dir Alles selbst. Und nun soll wie ein Donnerschlag das Wort auf Dich fallen –, oder Dich wie ein Traum narren: ›Ich gehe mit zehnmal mehr Lust und Willen aufs Vicariat, als ich es verließ.‹ (…) Wie Schuppen fiels mir von den Augen, daß ich alle jene Plane, die mein ganzes Herz erfüllen auf keinem Fleck der Welt (wie nun eben die Welt ist!) sicherer und lustiger verfolgen kann als in der Dachstube eines wirtembergischen Pfarrhauses. Mich soll gleich der Teufel holen wenn das mein Ernst nicht ist. Gelt? das heißt sich aufs Maul geschlagen gegen meine frühern Briefe! Es irrt der Mensch, solang er strebt etc. Adieu!«
Zurück im Vikariat vertrat er weiter verschiedene vakante Pfarrstellen und lernte in Plattenhardt die zwei Jahre jüngere Tochter des gerade verstorbenen Pfarrers kennen und lieben. Mörike und Luise Rau verlobten sich, doch hielt die Verbindung nicht. Im Herbst 1833 kündigte Rau das Verlöbnis aus nicht genau bekannten Gründen auf; wahrscheinlich mangelte es Mörike in ihren Augen an Ehrgeiz; oder die räumliche und zeitliche Distanz entfremdete beide einander, wogegen auch ein intensiver Briefwechsel, der für manche zu den schönsten der deutschen Literatur zählt, nichts half. Das im Juli 1830 beschworene »Liebesglück« war jedenfalls nicht von Dauer:
Wenn Dichter oft in warmen Phantasieen,
Von Liebesglück und schmerzlichem Vergnügen,
Sich oder uns, nach ihrer Art, belügen,
So sei dies Spielwerk ihnen gern verziehen.
Mir aber hat ein gütger Gott verliehen,
Den Himmel, den sie träumen, zu durchfliegen,
Ich sah die Anmut mir im Arm sich schmiegen,
Der Unschuld Blick von raschem Feuer glühen.
Auch ich trug einst der Liebe Müh und Lasten,
Verschmähte nicht den herben Kelch zu trinken,
Damit ich seine Lust nun ganz empfinde.
Und dennoch gleich ich jenen Erzphantasten:
Mir will mein Glück so unermeßlich dünken,
Daß ich mir oft im wachen Traum verschwinde.
Kaum war Luise Rau aus Mörikes Leben verschwunden, erreichte den Vikar die Bestallung als Pfarrer in Cleversulzbach. Mörike war als 30jähriger also endlich angekommen. Neun Jahre versah er das Amt in dem 600-Seelen-Ort, »kein schlechter, aber gewiß kein musterhafter Pfarrer«, wie es Albrecht Goes, seinerseits Pfarrerdichter im 20. Jahrhundert und Wahlverwandter von Mörike, formulierte. Mit nicht einmal 40 Jahren bat Eduard Mörike aus gesundheitlichen Gründen um die Versetzung in den Ruhestand, die ihm gewährt wurde.
Die folgenden drei Jahrzehnte lebte er unstet; immer umhegt von seiner jüngeren Schwester Klara. Sie wohnten in Wermutshausen, Schwäbisch-Hall, Bad Mergentheim, am Bodensee, in Bebenhausen, Lorch, Nürtingen sowie immer wieder und am längsten in Stuttgart. Seit 1851 war Mörike verheiratet mit Margarethe von Speeth, ohne dass die Lebensgemeinschaft mit der Schwester aufhörte. 14 Jahre lang verdiente Mörike für seine eigenartige Familie mit zwei Frauen und zwei Töchtern (geboren 1855 und 1857) als Lehrbeauftragter für Deutsche Literaturgeschichte am Katharinenstift in Stuttgart ein kleines Zubrot zur mageren Pension. Die letzten Jahre brachten ihm verschiedene Ehrungen ein (»einen Doktorhut, den Professorentitel, zwei Orden«), »zugleich aber, und beständig fast, häusliche Not, Verstimmung, Krankheit, Dürftigkeit, (…) einige Resignation«, so noch einmal Albrecht Goes.
Dem zeitlebens dürftigen Dasein trotzte Mörike ein zwar schmales, doch gewichtiges Œuvre ab. »Ein schönes Werk von innen heraus zu bilden«, schrieb er im Juni 1838 an den befreundeten Autor Hermann Kurz, »dazu bedarfs – weißt Du so gut als ich – vor allem Ruhe und einer Existenz, die uns erlaubt, die Stimmung abzuwarten«.
1832 war als erstes Buch der einzige Roman erschienen: »Maler Nolten«, eine Art romantischer Antibildungsroman in Anschluss an die vorbildhaften Romane Goethes (»Wilhelm Meisters Lehrjahre«, »Die Wahlverwandtschaften«), allerdings viel düsterer ausfallend; er endet mit Entkräftung, geistiger Umnachtung, Selbstmord und weiteren Toden. Der Roman »fand wohlwollende Aufnahme, blieb aber ohne stärkere Wirkung« (Bernhard Zeller). Er gilt als schwer zugänglich und nicht ganz einwandfrei gebaut. Gustav Schwab sprach 1833 von einer unglücklichen »doppelten Motivierung«; heute wird dagegen von einer »gekonnt angelegten Duplizität und Desintegration« (Mathias Mayer) gesprochen.
Bleibende Gedichte
Bleibenden Ruhm erwarb sich Mörike mit seiner Sammlung der »Gedichte«, die erstmals 1838 erschien und zu Lebzeiten noch dreimal in jeweils veränderter Form wieder aufgelegt wurde (als Ausgabe letzter Hand gilt die Edition von 1867, die als Titelauflage 1873 ein zweites Mal erschien). In diesem, in der Erstausgabe 236seitigem, Buch stehen viele der berühmtesten Gedichte der deutschsprachigen Literaturgeschichte, zum Beispiel das bei einer Umfrage im Sommer 2000 in den Top ten der »Lieblingsgedichte der Deutschen« gelandete Naturgedicht »Er ist’s« (geschrieben am 9. März 1829):
Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
— Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist’s,
Frühling, ja du bist’s!
Dich hab’ ich vernommen!
Das in den Anthologien der vergangenen zweihundert Jahre meistgedruckte Gedicht überhaupt – noch vor Matthias Claudius’ »Abendlied« (»Der Mond ist aufgegangen …«) und Goethes »Erlkönig« – ist nach einer statistischen Erhebung Hans Braams aus dem Jahr 2004 Mörikes »Um Mitternacht« (geschrieben 1827):
Bedächtig stieg die Nacht an’s Land,
Lehnt träumend an der Berge Wand,
Ihr Auge sieht die goldne Wage nun
Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn,
Und kecker rauschen die Quellen hervor,
Sie singen der Mutter, der Nacht, in’s Ohr
Vom Tage,
Vom heute gewesenen Tage.
Das uralt alte Schlummerlied,
Sie achtet’s nicht, sie ist es müd’;
Ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch,
Der flücht’gen Stunden gleichgeschwungnesJoch.
Doch immer behalten die Quellen das Wort,
Es singen die Wasser im Schlafe noch fort
Vom Tage,
Vom heute gewesenen Tage.
Es sind solche Verse, die den Studienfreund David Friedrich Strauß an Mörike rühmen ließ: »Ihm verdanken wir es, daß man keinem von uns jemals wird Rhetorik für Dichtung verkaufen können; daß wir allem Tendenzmäßigen in der Poesie den Rücken kehren.«
Die Abkehr von einem direkten Gesellschaftsbezug (»Tendenz«) ist Mörike immer wieder zum Vorwurf gemacht und als Ausdruck einer Resignation gewertet worden, die ihr Korrelat im apolitischen Spießbürgertum hat: »Selbstausbürgerung des sensiblen Künstlers aus einer bürgerlichen Welt« nannte das 1979 der Germanist Peter Stein, Flucht in eine angeblich heile Natur.
Allerdings tun sich hinter der idyllischen Oberfläche mitunter Abgründe auf, die etwas von der gern verborgenen Problematik bürgerlicher Subjektivität, von ihrer Entfremdung und Einsamkeit im 19. Jahrhundert erahnen lassen.
Laß, o Welt, o laß mich seyn!
Locket nicht mit Liebesgaben!
Laßt dies Herz alleine haben
Seine Wonne, seine Pein!
Was ich traure weiß ich nicht,
Es ist unbekanntes Wehe;
Immerdar durch Thränen sehe
Ich der Sonne liebes Licht.
Oft bin ich mir kaum bewußt,
Und die helle Freude zücket
Durch die Schwere, so michdrücket
Wonniglich in meiner Brust.
Laß, o Welt, o laß mich seyn!
Locket nicht mit Liebesgaben!
Laßt dies Herz alleine haben
Seine Wonne, seine Pein!
Dunkler Biedermann
Mörike wirke auf manche wie »ein Biedermann, ein selbstgenügsamer, weltfremder Poet«, so Helmut Koopmann vor rund 20 Jahren, doch wusste er um »Nicht-Geheures, Bedrohendes, Melancholisches«, kannte »Unverständliches« und »dem Alltagsmenschen Unheimliches«, »Zwielichtiges und Zauberisches«.
Außer in seinen besten Gedichten begegnet das auch in seinen Novellen und einigen Märchen; in der Kriminalerzählung »Lucie Gelmeroth« (1833/56) zum Beispiel, wo sich die Titelfigur eines Mords bezichtigt, den sie gar nicht begangen hat; in der »Historie von der schönen Lau«, die »stets traurig war, ohn einige besondere Ursach« und um des Lebens willen das Lachen lernen muss; oder in der Künstlernovelle »Mozart auf der Reise nach Prag« (1856), in der von einer Art Selbstentäußerung im künstlerischen Schaffensprozess die Rede ist, die den berühmten Komponisten bald vernichten muss.
Auch die »Mozart«-Novelle, die von den Nachmärzrealisten sogleich im »Deutschen Novellenschatz« kanonisiert wurde, endet mit einem Gedicht, angeblich einem »Volksliedchen«, tatsächlich einem der berührendsten Kunstlieder der deutschsprachigen Literatur:
Ein Tännlein grünet wo,
Wer weiß, im Walde;
Ein Rosenstrauch, wer sagt,
In welchem Garten?
Sie sind erlesen schon,
Denk’ es, o Seele,
Auf deinem Grab zu wurzeln
Und zu wachsen.
Zwei schwarze Rößlein weiden
Auf der Wiese,
Sie kehren heim zur Stadt
In muntern Sprüngen.
Sie werden schrittweis gehen
Mit deiner Leiche;
Vielleicht, vielleicht noch eh’
An ihren Hufen
Das Eisen los wird,
Das ich blitzen sehe!
Arnd Beise ist Professor für Germanistik an der schweizerischen Universität Freiburg. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 2. April 2025 über Giacomo Girolamo Casanova: »Zu allem fähig«.
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