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Aus: Ausgabe vom 22.11.2025, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Schwarzer Kanal

Von Arnold Schölzel
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Am Mittwoch teilte die Bahn mit, dass sich die Fertigstellung von »Stuttgart 21« erneut verzögert. Am Donnerstag schrieb die FAZ in ihrem Wirtschaftsteil, vorsichtshalber habe die Deutsche Bahn »gar keinen neuen Termin für eine Eröffnung ihres 13 Milliarden Euro teuren Infrastrukturprojekts mehr genannt«. Die Autoren nannten als Ursache für die Verzögerung: »Technische Schwierigkeiten gibt es am digitalen Knoten Stuttgart schon länger, schließlich ist es ein technisch anspruchsvolles Pilotprojekt, das auf der Welt Ausnahmecharakter hat. Mit ihm wird die gesamte Leit- und Sicherungstechnik der Bahn im Großraum Stuttgart digitalisiert.« Und weiter: »Schon Ende 2023 sollte ein erster Teil eines digitalen Stellwerks in Betrieb genommen werden, Anfang 2024 dann eine mit ETCS ausgerüstete Teilstrecke. Doch daraus wurde nichts.«

Pilotprojekt? Ausnahme auf der Welt? Unter dem Stichwort »Chinese Train Control System« (CTCS) heißt es im Internetlexikon Wikipedia: »Die gesamte chinesische Hochgeschwindigkeitsflotte (fast 3.000 Triebzüge) ist mit CTCS (Level 2 und 3) ausgerüstet. Das CTCS ist strukturell gleichartig wie das European Train Control System (ETCS) aufgebaut, und einzelne Ausprägungen entsprechen direkt europäischen Standards.« Und das Internetportal ingenieur.de berichtete am 13. März 2024: »China setzt bei der Steuerung und Wartung seines Schienennetzes künftig ausschließlich auf künstliche Intelligenz (KI). Mit einer Länge von 45.000 Kilometern verfügt das Land über das größte Hochgeschwindigkeitsnetz der Welt, das von einem KI-System in Beijing überwacht wird.« Auch FAZ-Wirtschaftsredakteure lassen sich eine gründliche Recherche nicht von Tatsachen kaputtmachen.

Die FAZ-Politikredaktion macht das seit langem vor, seit 2022 serviert sie vor allem Spinnereien über Russland, am Donnerstag auch über »Stuttgart 21«. Auf Seite eins halluzinierte FAZ-Rechtsausleger Reinhard Müller über das Bahn-Desaster: »Das unselige Projekt dauert nicht zuletzt wegen umfassender Bürgerbeteiligung so lange, dass, als die Bagger anrückten, sich schon die nächste Generation mit einem Riesenloch konfrontiert sah.« Klar, als der damalige Bahn-Chef Heinz Dürr 1994 sein unseliges Immobilienvorhaben – den Grundstückverkauf des bisherigen Kopfbahnhofgeländes – verkündete, hatte er vorher die Bürger gefragt.

Müller leitet anschließend zu scheinbar gründlicherer Kritik über: »Dabei ist Stuttgart 21 nicht nur ein Bahn-Problem, so wie der langjährige Problem-(BER-)Flughafen Berlin-Brandenburg zwar gut in den märkischen Sand passt, aber auch für mehr steht.« Wer Systemkritik erwartet, bekommt aber wieder nur deutschnationalen Dusel: »Man hat sich daran gewöhnt, aber das macht die Sache nicht besser: Große Infrastrukturprojekte sind Weltwunder geworden – in Sachen Planung, Dauer, Verfahren.«

Offenbar legt die Volksrepublik China bei ihren Infrastrukturbauten ein Wunder nach dem anderen hin, aber Bahnhofsbau wird dort anders als von Müller nicht als Durchbrechen des Naturzusammenhangs betrachtet. Man hat langfristige Pläne, aber die sind Wundergläubigen etwas Satanisches. Müller schreibt daher: »Das größte Wunder wäre eine fristgerechte und einwandfreie Fertigstellung. Das liegt an einer Fülle von Vorgaben, die von deutschen Volksvertretern mitbeschlossen worden sind, auch soweit sie aus Brüssel kommen, an ihrer pflichtgemäßesten Umsetzung und unabhängigsten Überprüfung.« Heureka, der Mann hat’s geschnallt: Die Deutschen machen alles richtig, nur klappt es einfach nicht, weil wir so gründlich und so bürokratisch sind. Laut Müller fehlt der »richtige Geist«. Was er dafür hält, weht durch die Ruinen von »Stuttgart 21«.

Die Deutschen machen alles richtig, nur klappt es einfach nicht, weil wir so gründlich und so bürokratisch sind

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