Gegründet 1947 Sa. / So., 22. / 23. November 2025, Nr. 272
Die junge Welt wird von 3063 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 22.11.2025, Seite 4 (Beilage) / Wochenendbeilage
China

Das Wunder China

Die Volksrepublik befindet sich in einem rasanten Modernisierungsprozess. Eindrücke von einem Besuch in Beijing
Von Rudolf Stumberger
1.jpeg
In der Verbotenen Stadt funktioniert Google Maps leider nicht, andernorts problemlos

Flug von München nach Beijing, Abflug 12.50 Uhr. Obwohl bei Air China gebucht, wird der Flug von der Lufthansa durchgeführt. Die Reise dauert an die zehn Stunden, Zeit genug, um nachzudenken, was ich eigentlich über die chinesische Hauptstadt weiß. Für mich ist sie ein unbeschriebenes Blatt, abgesehen von ein paar historischen Bruchstücken, die aus der medialen Erinnerung auftauchen: Mao Zedong, der Kaiserpalast, das Bild vom Platz des Himmlischen Friedens mit dem Demonstranten und dem Panzer. Aktuell im Reisegepäck habe ich aber Ratschläge und Empfehlungen von Freunden und Bekannten. Der eine liest vor allem den Spiegel, und er erzählt mir gerne von sozialer Kontrolle über die dortigen sozialen digitalen Netzwerke; der andere meint, in China gebe es keine Servietten, und Google Maps würde nicht funktionieren. Und im Gepäck auch das neuerdings stete Raunen der Medien, wie China »uns« bedrohe.

So gerüstet, steige ich nach zehn Stunden in einem sehr, sehr engen Sitz in der Billigklasse etwas gerädert aus dem Flugzeug, bereit, mich auf einen Kampf einzulassen – mit dem Bankschalter für das Geldwechseln, dem Ticketautomaten für die U-Bahn und der Bedrohung, wegen der chinesischen Schriftzeichen irgendwo verlorenzugehen. Doch mein gefestigter Wille zur Selbstbehauptung und Wehrtüchtigkeit geht ins Leere. Der internationale Flughafen von Beijing ist sehr aufgeräumt, das Geldwechseln bei einem Bankschalter problemlos, und das mit der aufladbaren Karte für die U-Bahn bekomme ich auch hin. Und stelle fest, die U-Bahn-Stationen sind auch mit lateinischen Buchstaben beschriftet, man weiß also (mit dem Plan oder der entsprechenden App auf dem Handy in der Hand), wo man sich befindet und wo man aussteigen muss.

Mein Hotel liegt in der Straße, die zum Park mit dem Himmelstempel führt. Ein paar Meter um die Ecke befindet sich ein Supermarkt, und ich bin verblüfft über das Warenangebot, es ist nicht minder vielfältig als zu Hause. In den Restaurants, soviel kann ich versichern, gibt es Servietten, und Google Maps funktioniert auch, nur nicht in der Gegend um die Verbotene Stadt. Überhaupt scheint vieles in der Stadt kaum unterschiedlich zu westlichen Städten zu sein. Da ist das große Kaufhaus – eine »Shoppingmall«, würde man in den USA sagen –, in der es vom chinesischen Elektroauto bis zum neuesten Handy mit Leica-Optik so ziemlich alles zu kaufen gibt. Die Hotels sind modern, nicht selten Neubauten, man spricht Englisch an der Rezeption. Auch der Straßenverkehr ähnelt dem westlicher Großstädte: In der Rushhour stehen die Autos (oft mit Elektroantrieb) im Stau. Ungewohnt aber der Anblick der abertausend Chinesen, die auf Zweirädern unterwegs sind. Meist handelt es sich dabei um Fahrräder oder Roller mit Elektroantrieb, die so zur sauberen Luft beitragen. Motorräder sieht man hingegen kaum und schon gar nicht Dreiräder – also Motorradgespanne. Ich als passionierter Gespannfahrer frage mich: Wo sind sie geblieben?

Blankgeputzte Stadt

Ich mache mich auf und durchkämme die Straßen von Beijing, ob ich nicht doch irgendwo Motorräder mit Beiwagen entdecke. Aber weitgehend Fehlanzeige. Bis ich nahe der Tianquio-U-Bahn-Station gleich auf mehrere Motorradgespanne stoße. Was haben die wohl für eine Geschichte zu erzählen? Da befindet sich in einer Straßenecke ein einzylindriges, schwarzes Ungetüm mit verrosteter Kette, auf dem Beiwagen liegen zwei Reisigbesen. Obwohl noch mit gelbem Nummernschild, scheint das Ding schon länger nicht mehr bewegt worden zu sein. Ich habe keine Ahnung, um was für eine Marke es sich handelt, »Zongshen« steht auf dem Getriebedeckel. Im Internet lerne ich, dass Zongshen ein großer chinesischer Motorradhersteller mit Sitz in Chongqing, China, ist. Das Unternehmen produziert eine Vielzahl von Motorrädern, Quads, Generatoren und Motoren.

2.jpeg
Das Gespann mit der fast bayerisch anmutenden blau-weißen Lackierung lässt das Herz von Motorradfans höher schlagen

Eine Straße weiter stoße ich vor einer Reparaturwerkstatt für Motorroller auf ein blaues Motorradgespann, ein Turnschuh steht unter dem Beiwagen, der andere liegt oben drauf. Auf dem Tank und der Seite des Beiwagens ist »Yingang« zu lesen und dass es »Yingang« seit 1995 gibt. Auf einem Deckel steht noch: »Travel Braveman 500«. Das Bike stammt von dem chinesischen Motorradhersteller YG Motors. Das ist, so schreibt ein australisches Motorradmagazin, eines der unzähligen chinesischen Unternehmen, die sich – wie aus dem Nichts kommend – mit dem Bau von Motorrädern beschäftigen. Standort soll Chongqing sein, ob die mit Zongshen verwandt sind? Mit der weiß-blauen Bemalung sieht das Retroding ziemlich bayerisch aus. Ich will etwas mehr über den Besitzer wissen und frage die drei Jungs, die vor dem Motorradladen herumhängen, ob sie etwas wissen. Doch trotz der Übersetzerfunktion von Google verstehen wir uns nicht wirklich.

Schließlich stoße ich noch auf ein mausgraues Gespann mit einem Plastikdach über dem Beiwagen, überall steht »China« drauf. Auf dem Tank ist noch »Regal Raptor« zu lesen. Diese Marke gehört zur »Lifeng«-Group, die in den 1980er Jahren in Zhejiang gegründet wurde. Das Unternehmen baut neben Motorrädern auch Kleinstelektroautos und andere seltsame Vehikel.

Es bleibt mir ein Rätsel, warum gerade an dieser Straßenkreuzung die Gespanne geparkt sind, während sie ansonsten in der Stadt kaum zu sehen sind. Schließlich bekomme ich eine Antwort. Ein Mitarbeiter der chinesischen Website »Beijing Sidecar« schreibt mir, die chinesische Regierung habe die alten 750er Maschinen praktisch von der Straße verbannt. In den großen Städten können sie nicht mehr zugelassen werden, und wenn man sie auf dem Land anmeldet, darf man damit nicht in die Städte fahren. Das Ganze geht zurück auf 2008, als man Beijing wegen der Olympischen Spiele blankputzte. Die Gespanne wurden als alt, schmutzig und unerwünscht angesehen. Sie sind wohl der sauberen Luft zum Opfer gefallen.

Geht man durch die Stadt, in der die Menschen morgens in den Parks ihre Qigong-Übungen machen, wird klar: China steckt in einem rasanten Modernisierungsprozess. Was auffällt, ist das völlige Fehlen von politischen Parolen im Stadtbild, nur auf der Mauer vor dem Platz des Himmlischen Friedens ist ein Mao-Porträt zu sehen. Und wie ist das jetzt nun, kapitalistische Wirtschaft und Kommunistische Partei?

3.jpeg
Von der Großen Halle des Volkes möchte man schon ein richtiges Foto davontragen, nicht nur ein Selfie

Aufblühen und mitziehen

Das werde ich auf dieser Reise nicht klären können, aber ich erinnere mich an eine Tagung vor ein paar Jahren in München mit dem Titel »Der Aufstieg Chinas und die Krise des neoliberalen Kapitalismus«, veranstaltet vom Münchner Institut für sozialökologische Wirtschaftsforschung, der Rosa-Luxemburg-Stiftung und dem Netzwerk »Transform Europa«. Mit dabei war damals Professor Hu Leming vom Institut für Ökonomie an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften in Beijing. Er sagte, »in einer sehr, sehr fernen Zukunft«, wenn ein »sehr hohes Produktivitätsniveau« erreicht sei, könne er sich eine Planwirtschaft vorstellen. Bis dahin aber gehe die Volksrepublik China den Weg der sozialistischen Marktwirtschaft. Also mit einer ökonomischen Mischung aus Staatsbetrieben und kapitalistischen Privatunternehmen. Die mittlerweile eine Menge Milliardäre hervorgebracht hat. »Lasst eine Gruppe von Menschen erstmals aufblühen und so die anderen mitziehen, das ist unser Ziel«, so Hu zu diesem ziemlich kapitalistischen Phänomen.

Beeindruckt von dieser Dynamik des Kapitalismus war in den 1970er Jahren auch der chinesische Parteichef Deng Xiaoping, dem man die Worte zuschreibt, ihm sei es egal, ob eine weiße oder schwarze Katze die Mäuse fange. Damals machte sich China daran, mit der Zulassung von privatwirtschaftlichen Unternehmen sozusagen »auf dem kapitalistischen Tiger zu reiten« und die Dynamik der »Anreize«, also des individuellen Gewinnstrebens, für die ökonomische Entwicklung zu nutzen. Professor Ding Xiaoqin von der Universität Shanghai zeigte damals auf der Tagung den rasanten Aufstieg Chinas auf. So stieg das Bruttoinlandsprodukt von 30,5 Milliarden US-Dollar 1952 auf 13,6 Billionen US-Dollar 2018. Das verfügbare Prokopfeinkommen stieg in dieser Zeit von jährlich geschätzten 37 auf 4.265 US-Dollar. Gleichzeitig fiel die Zahl der Menschen, die in absoluter Armut leben, von 770 Millionen (1978) auf 99 Millionen (2012), während die Lebenserwartung von 35 auf 77 Jahre anstieg. China ist heute die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt.

Was aber ist noch sozialistisch an der »sozialistischen Marktwirtschaft«, auf der dieser Erfolg beruht? Oder zeigt sich hier einfach die für die Linke wohl schmerzhafte Erkenntnis, dass es ohne Kapitalismus, ohne Milliardäre und soziale Ungleichheit nicht geht? Und dass damit eigentlich all die Opfer des sozialistischen Aufbaus der Sowjetunion vergeblich waren, die Planwirtschaft eine Sackgasse? China befinde sich in der Anfangsphase des Sozialismus, sagte Professor Ding Xiaoqin damals auf der Tagung, und das Sozialistische sei in der Führungsrolle der Kommunistischen Partei und dem Fundament staatlicher Betriebe zu sehen. Ziel seien die Wohlstandsentwicklung und die Anhebung des Produktivitätsniveaus. Mich erinnert dieses Entwicklungsmodell an die Wirtschaftswunderjahre in der Bundesrepublik. Damals gab es einen großen staatlichen oder kommunalen Sektor mit Millionen Arbeitsplätzen bei Post, Bahn, VW und den Stadtwerken. Und die Politik sorgte für die Regulierung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, auch wenn nicht die KPD, sondern Adenauer am Ruder war. Ähnlich wie jetzt in China, fuhr der gesellschaftliche Fahrstuhl für alle nach oben. Bei uns hat sich der Fahrstuhl freilich mittlerweile zu einem Paternoster entwickelt – für manche geht es wieder nach unten.

Ich mache noch einen Ausflug in die sozialistischen Zeiten Chinas in den 1950er Jahren, als es noch ohne Marktwirtschaft gehen sollte. Mit der U-Bahn-Linie 14 fahre ich in den 798 Kunstbezirk, der auf dem weitläufigen Gelände einer ehemaligen Fabrik entstanden ist. Die ehemaligen Fabrikgebäude im Bauhaus-Stil sind noch erhalten, 1957 wurden hier Güter aus der DDR entladen, die über den langen Weg der Transsibirischen Eisenbahn gekommen waren. Ein mächtiger Kamin steht noch, ebenso die Gleise und eine Lokomotive. Heute sei das Kreativareal ein »vibrierender Spielplatz für Kunst und Installationen«, heißt es in meinem Reiseführer. Und in der Tat, die Ansammlung von Boutiquen, Kunstgalerien und kleinen Läden könnte auch in einer westlichen Metropole stehen. Nur eine Galerie unterscheidet sich stilistisch doch sehr: Es ist der Kunstpavillon von Nordkorea, in dem heroische Großgemälde präsentiert werden. Fotografieren verboten.

Friedenspropaganda statt Kriegsspielzeug

Mit dem Winteraktionsabo bieten wir denen ein Einstiegsangebot, die genug haben von der Kriegspropaganda der Mainstreammedien und auf der Suche nach anderen Analysen und Hintergründen sind. Es eignet sich, um sich mit unserer marxistisch-orientierten Blattlinie vertraut zu machen und sich von der Qualität unserer journalistischen Arbeit zu überzeugen. Und mit einem Preis von 25 Euro ist es das ideale Präsent, um liebe Menschen im Umfeld mit 30 Tagen Friedenspropaganda zu beschenken.

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • Japans Regierungschefin umschmeichelt den US-Präsidenten und ver...
    17.11.2025

    Provokation gegen China

    Japan: Rechte Regierungschefin droht Volksrepublik mit militärischem Eingreifen zugunsten Taiwans
  • Alltägliches Bild: Schwerbewaffneter Polizist an einer Kreuzung ...
    04.10.2025

    Mandat für US-Imperialismus

    Haiti: UN-Sicherheitsrat beschließt neuen Militäreinsatz, als Vorwand dienen »Banden«. Scharfe Kritik sozialer Bewegungen

Regio:

Mehr aus: Wochenendbeilage