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Aus: Ausgabe vom 19.11.2025, Seite 3 / Ansichten

Fesseln lösen

Gipfel zur »digitalen Souveränität«
Von Jörg Kronauer
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»Smart Cities« wollen sie in die Welt setzen – aber von wem will man sich digital abhängig machen?

Kleine Scherzfrage zum Einstieg: Wer hat da gerade eine »digitale Dekade« ausgerufen, um endlich »Europas digitale Souveränität« zu erreichen? Weil es nicht angeht, dass die EU auf Dauer selbst die sensibelsten Daten auf den Servern von US-Konzernen speichert; dass sie nicht mehr arbeitsfähig wäre, würde Microsoft ihr die Software abdrehen; dass sie in der digitalen Welt auch sonst umfassend von den Vereinigten Staaten abhängig ist? Richtig: Das war EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die berühmte Vorkämpferin der strategischen Autonomie der EU. Nur: Sie hat die »digitale Dekade« nicht gerade eben ausgerufen, sondern im September 2020. Wie sieht es nun nach der Hälfte dieser Dekade aus? Die EU-Staaten speichern ihre Daten bei US-Konzernen, rechnen weiter fleißig mit Excel-Tabellen, benutzen, soweit sie das überhaupt schon tun, US-amerikanische KI. Wäre die »digitale Dekade« wenigstens heiße Luft, man könnte sich im kalten November immerhin an ihr wärmen.

Die Idee, die EU könne trotz allem vielleicht doch noch »digitale Souveränität« erlangen, stand am Dienstag im Zentrum eines eigens dazu anberaumten deutsch-französischen Gipfels in Berlin. Für die Bourgeoisien der EU-Führungsmächte geht es so langsam um alles. Man weiß: Würden US-Truppen nach Grönland in Marsch gesetzt, Europas F- 35-Flotten könnten wohl nicht mal zum Scheinwiderstand abheben. Sie würden mutmaßlich mit »Kill Switches« lahmgelegt. Die EU hat sich auf einen verheerenden Zolldeal mit Washington einlassen müssen, auf Druck Berlins – allzu groß ist die Abhängigkeit der deutschen Kfz-Industrie vom US-Absatzmarkt. Zuletzt trauten die Staats- und Regierungschefs der EU sich nicht mal, am EU-Lateinamerika-Gipfel teilzunehmen, der für sie strategisch so wichtig war – allzu sehr fürchteten sie den Zorn der US-Regierung unter Donald Trump. Werden sie nicht langsam eigenständig, dann versinken die herrschenden Klassen der EU-Staaten in Lächerlichkeit.

Entsprechend hieß es auf dem Gipfel zur europäischen digitalen Souveränität am Dienstag, die EU müsse sich endlich »unabhängiger machen«, das habe »eine ganz neue Priorität«. Die BRD und Frankreich würden – jetzt aber wirklich! – ihre digitale Eigenständigkeit, ihre Unabhängigkeit von den US-Techkonzernen vorantreiben. Wirklich? Nun, ein wenig bewegt sich inzwischen in der Tat. So ist derzeit eine europäische Drohnenindustrie im Entstehen begriffen, deren Produkte in einem Krieg gegen Russland auch dann zum Einsatz kommen könnten, wenn Washington das ablehnte: »Kill Switches«, ade! Und dennoch: Eine umfassende Souveränität wird für die Bourgeoisien der EU allenfalls erreichbar sein, wenn sie sich zusammentun, wenn die Kooperation zwischen Berlin und Paris gelingt. Der verlässlichste »Kill Switch« für jedwede Souveränität der EU war bisher die deutsch-französische Rivalität.

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