Heimliches Begehren
Von Marc Bebenroth
Es dürfte kaum ein folgenschweres Vorhaben der EU-Kommission geben, das ohne die Zustimmung aus Berlin beschlossen wird. Im Fall der sogenannten Chatkontrolle geht die bisherige Ablehnung durch deutsche Regierungen nicht auf mangelndes Interesse an Massenüberwachung, sondern auf beständige Uneinigkeit der jeweiligen Ressorts bzw. Koalitionspartner zurück. Die politischen Grabenkämpfe – mal um regulatorische Details, mal ums Grundsätzliche – werden dabei traditionell zwischen dem Justizministerium und dem Innenministerium ausgefochten. Letzteres kann sich oft durchsetzen, wenn es um die Ermächtigung der Staatsgewalt und das Schleifen von Grundrechten geht. Im Fall der Chatkontrolle ist das Innenressort als Einzelkämpfer unterwegs. Das Ergebnis: Am Abend des 8. Oktobers scheiterte eine Abstimmung von EU-Diplomaten am deutlichen Nein der BRD. Damit dürfte auch die Beratung der Chatkontrolle auf der für Dienstag geplanten Sitzung der Innenminister aller EU-Mitgliedstaaten vom Tisch sein.
Einblicke hinter die Berliner Kulissen gaben am Donnerstag die Reden im Bundestag anlässlich einer von der AfD-Fraktion einberufenen Debatte. So habe der Digitalausschuss am Mittwoch über das Vorhaben der EU-Kommission, unter dem Vorwand des Kampfes gegen sexualisierte Gewalt an Minderjährigen sämtliche digitale Kommunikation auf allen Endgeräten in der EU automatisiert überwachen zu lassen, deshalb unter Ausschluss der Öffentlichkeit diskutiert, weil andernfalls »alle Welt gesehen hätte, wie gespalten« die Regierung »in dieser Frage ist«, sagte der AfD-Abgeordnete Ruben Rupp. Im Ausschuss habe das – bislang laut zur Chatkontrolle schweigende – CSU-kontrollierte Innenministerium so getan, als wäre »den vielen Bürgerinnen und Bürgern, die sich an uns gewandt haben in den letzten Tagen, Kinderschutz egal«, sagte Jeanne Dillschneider (Bündnis 90/Die Grünen). Laut der Linke-Abgeordneten Donata Vogtschmidt habe eine Regierungsvertreterin im Ausschuss gemeint, man sei »ziemlich sauer« darüber, weil »der Protest die geplante Einigung der Bundesregierung torpediert habe«. Zu Ausnahmen bei der Chatkontrolle für »Sicherheitsbehörden und Militär«, habe die Regierung Vogtschmidt zufolge erklärt, diese seien aus Sicherheitsgründen notwendig.
Entsprechend deutlich wurde die Linke-Abgeordnete: »Ihre Doppelmoral: Es geht nicht um den Kinderschutz, sondern um den Schutz des Staates, der seine eigenen Strukturen nicht kontrollieren will und das angesichts regelmäßig auftauchender rechtsextremer Chats in Sicherheitsbehörden.« Dem Unionsfraktionsvorsitzenden Jens Spahn (CDU) warf die Grünen-Politikerin Dillschneider vor, nach jahrelangem Schweigen erst sein »Nein« zur Chatkontrolle bekundet zu haben, als zahlreiche Experten und Organisationen wenige Tage vor dem wichtigen Termin in Brüssel dagegen Sturm gelaufen seien.
In einem Antrag vom 7. Oktober fordert die Linke-Fraktion nicht nur die Bundesregierung auf, »sich in den Verhandlungen auf EU-Ebene und in Gesprächen mit anderen Mitgliedstaaten gegen die geplante CSA-Verordnung einzusetzen«. Sie berichtet darin auch, welche Form der Chatkontrolle das Innenministerium offenbar für vertretbar hält. Demnach schlug das Ministerium in der nichtöffentlichen Sitzung des Digitalausschusses vom 12. September vor, die Massenüberwachung von Chats »nur noch auf bereits bekanntes« Material zu beschränken und Inhalte mit »Datenbanken anhand von generierten Hash-Werten« – digitalen Prüfsummen von einzelnen Dateien – abzugleichen. Laut Linke-Fraktion würde dies »nichts an der Tatsache ändern, dass eine allgemeine technische Schwächung und inhaltliche Analyse der verschlüsselten privaten Kommunikationsinhalte erfolgt«.
Mit seinen Vorschlägen wolle das Ministerium womöglich erreichen, dass die Bundesregierung der Chatkontrolle »im Dezember zu einer Mehrheit verhilft«, schreibt der frühere EU-Abgeordnete Patrick Breyer auf seiner Internetseite. Einflussreiche Lobbyorganisationen von Techkapitalisten und der Internetwirtschaft wie die US-Organisation Thorn oder die britische Internet Watch Foundation werden sich jedenfalls durch ein weiteres Nein – ob aus Berlin oder Brüssel – nicht aufhalten lassen. Zu groß sind die Profitmöglichkeiten mit Staatsaufträgen für Überwachungssoftware, zu stark das Begehr von Polizeien und Geheimdiensten, überall mitlesen zu können.
Hintergrund: Methoden der Spionage
Wie sich eine Einführung der »Chatkontrolle« auf die Nutzer auswirken würde, hängt maßgeblich davon ab, welches Verfahren für das Abgreifen und Auswerten der privaten Nachrichten zur Anwendung kommen soll.
Die allermeisten Nachrichten, die über Messengerdienste verschickt werden, sind auf irgendeine Art verschlüsselt. Wäre dem nicht so, könnte sie jedes Glied der technologischen Zustellkette ohne nennenswerten Aufwand mitlesen, und auch das Abfangen durch Dritte wäre trivial. Das ist zum Beispiel bei klassischen SMS der Fall, die quasi als Klartext vom Sender über die Telefonanbieter zum Empfänger gesendet werden. Ende-zu-Ende-Verschlüsselungsmethoden, wie das für die App Signal entwickelte und von anderen adaptierte Protokoll, gelten als Goldstandard und verbergen die Inhalte selbst vor den Betreibern.
Die naheliegendste Variante der Massenüberwachung wäre, solche für Dritte nicht umgehbare Verschlüsselungen direkt oder indirekt zu verbieten. Beispielsweise könnten Behörden Zugriffe auf die Server der Anbieter und Zugang zu den Verschlüsselungscodes verlangen. Das wäre serverseitige Überwachung durch Hintertüren in den Programmen, wie sie beispielsweise die US-Regierung immer wieder für die Systeme von Apple verlangte. Solche Hintertüren waren es dann auch, die von Kriminellen oder ausländischen Agenten geknackt und für eigene Zwecke genutzt worden sind.
Bei dem jüngsten, vorerst gescheiterten EU-Gesetzentwurf geht es um sogenanntes »client-side«, also klientenseitiges Tracking. Das bedeutet, dass das Auswerten der Nachrichten nicht erst geschehen soll, nachdem sie verschickt und sich von einer zentralen Stelle irgendwie darauf Zugriff beschaffen wurde, sondern direkt auf dem Gerät des Senders und noch vor der Verschlüsselung. Auch hier gibt es prinzipiell mehrere Möglichkeiten der Umsetzung.
Die zuletzt diskutierte Variante sah vor, die Entwickler von Messenger-Apps zur Implementierung einer entsprechenden Funktion zu verpflichten. Dabei sollten Nachrichten durch die Apps mit einer Datenbank abgeglichen und (mutmaßlich) illegale Inhalte automatisch gemeldet werden. Laut Entwurf wären zunächst nur Bilder und Videos, nicht aber die Nachrichten selbst betroffen, wobei der Ausweitung der Zugriffs- und Meldungsbefugnisse nach Implementierung der technischen Grundlage an sich nichts im Wege stehen würde.
Eine weitere und noch weit invasivere Option wäre, die Entwickler der mobilen Betriebssysteme zu einer entsprechenden Funktion zu verpflichten. Insbesondere die »Neural Processing Units«, also dezidierte Chips für »künstliche Intelligenz«, die in den vergangenen Jahren in vielen Smartphones verbaut wurden, könnten eine KI-gestützte Überwachung erleichtern. (lvl)
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