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Aus: Ausgabe vom 04.11.2025, Seite 11 / Feuilleton
Politische Theologie

Von der Kirche zur Welt

Zum 100. Geburtstag des evangelischen Theologen Hanfried Müller
Von Dieter Kraft
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Theologie und Politik: Hanfried Müller (4.11.1925–3.3.2009)

Als der evangelische Theologe Hanfried Müller am 3. März 2009 verstarb, da hielt sich in bestimmten kirchlichen Kreisen die Trauer durchaus in Grenzen. Der Theologieprofessor galt ihnen als ein kompromissloser Extremist, als Sektierer gar, dessen kategorisches Festhalten an einer wahrhaft reformatorischen Theologie als Zumutung und Provokation empfunden wurde. Und in der Tat: Die Reformation war für die verweltlichte Papstkirche wirklich eine Zumutung und Provokation. Als dann aber auch die aus der Reformation hervorgegangenen evangelischen Kirchen zu verweltlichen begannen (und wie die sogenannten Deutschen Christen Hitlers gar zu einer Antikirche wurden), da galt wahrhaft reformatorische Theologie erneut als Zumutung und Provokation.

Die deutsche Kirchengeschichte kennt nicht viele Theologen, die sich dieser neuerlichen Deformation entgegenstellten. In der DDR waren es mit wenigen anderen der Dogmatiker Hanfried Müller und seine Ehefrau, die Kirchenhistorikerin Rosemarie Müller-Streisand. Beide gingen nach ihrem Studium in Bonn, Göttingen und Westberlin in die DDR, nachdem ihnen die verheerenden Konsequenzen der Remilitarisierung der Bundesrepublik politisch bewusst geworden waren. In Göttingen eröffnete die Universität sogar ein Disziplinarverfahren gegen Müller, da er an einer Demonstration gegen die »Wiederbewaffnung« teilgenommen hatte.

Schon immer hatte auch die Theologie- und Kirchengeschichte einen politischen Hintergrund. Das gilt bis heute und lässt sich an den unterschiedlichsten Verhältnissen verifizieren – grundsätzlich vor allem an dem Verhältnis von »Staat und Kirche«. So heute in der kirchlichen Affirmation einer Politik, die auf »Kriegstüchtigkeit« setzt.

Auch Hanfried Müller war ein Opfer deutscher Kriegssüchtigkeit. In Italien musste er als Soldat »dienen«. Doch sein wirkliches Verdienst war es, mit italienischen Partisanen zu kollaborieren.

Nichtreligiöse Interpretation

Als Müller dann in der DDR die erste große Bonhoeffer-Monographie schrieb, war ihm Bonhoeffers Kollaboration mit den Hitler-Gegnern des 20. Juli durchaus eine Selbstverständlichkeit. Und als Ehemann einer nach den berüchtigten »Nürnberger Gesetzen« sogenannten Halbjüdin, deren halbe Familie in Auschwitz ermordet worden war, war es für Hanfried Müller auch selbstverständlich, ein konsequenter und streitbarer Antifaschist zu sein. Wie sollte das nicht auch für seine theologische Entwicklung von Bedeutung werden?

Die Monographie, eine von Heinrich Vogel betreute Dissertation, trägt den vom Doktorvater vorgeschlagenen Titel »Von der Kirche zur Welt«. In diesem grandiosen Opus, das in der Bonhoeffer-Forschung – bis auf wenige Ausnahmen – harsche oder nur oberflächliche Kritik erfuhr, bündeln sich auch theologische Positionen, die eng mit der »Bekennenden Kirche« (BK), dem Widerpart der »Deutschen Christen«, verbunden sind. Die drei für Müller wichtigsten BK-Lehrer waren die Professoren Hans Joachim Iwand, Karl Barth und Ernst Wolf – drei auf je ihre Weise »dialektische Theologen«.

Nun kommt der BK-Theologe Dietrich Bonhoeffer dazu und mit ihm die großen Gedanken von der »mündigen Welt« und von der »nichtreligiösen Interpretation«. Müller schrieb dazu:

»Nichtreligiöse Interpretation« kann »nichts anderes heißen, als den Menschen nicht auf seine Unwissenheit hin metaphysisch, nicht auf seine Erlösungshoffnung hin individualistisch, nicht auf seine Bindung an das Jenseits und auf seine Innerlichkeit hin anzusprechen, sondern auf seine Stärke und sein Wissen, auf seine gesellschaftliche Verantwortlichkeit und auf seine Diesseitigkeit hin. Er muss auf seine Selbstrechtfertigung in seinen guten und starken Werken der Herrschaft über die Erde so angesprochen werden, dass er aus den gottlosen Bindungen dieser Welt, d. h. aus der Selbstrechtfertigung im mandatum dominii terrae, so befreit wird, dass er nicht in neue gottlose Bindungen jener Welt, d. h. in die Selbstrechtfertigung in der billigen Gnade oder einem christlichen Gesetz (Lebensordnung) verfällt. Nichtreligiöse Interpretation heißt, den nicht mehr gottlos an das Jenseits gebundenen Menschen auch aus den gottlosen Bindungen dieser Welt befreien, keineswegs aber, ihn aus dieser Welt befreien, sondern im Gegenteil, den in Christus Befreiten an diese Welt in ihrer Mündigkeit zu verweisen.« (1966, 2. Auflage, 415)

Freiheit zum Dienen

Von der Kirche zur Welt. Wäre da nicht ein Dietrich Bonhoeffer gewesen, den Müller hier mit exegetischer Sorgfalt zur Sprache bringt, die Kritik an seiner Monographie hätte sich womöglich mit dem Vorwurf der Häresie verbunden. Aber angesichts eines christlichen Märtyrers wagte das denn doch niemand.

Dafür begannen Müllers Bonhoeffer-Interpretation und das ihr entsprechende Verständnis von »christlicher Freiheit« neue Resonanzen zu finden. So vor allem in dem von Müller und Gerhard Bassarak 1958 gegründeten sogenannten Weißenseer Arbeitskreis (WAK), der Kirchlichen Bruderschaft in der Berlin-Brandenburgischen Kirche. 1963 legte der WAK die »Sieben theologischen Sätze über die Freiheit der Kirche zum Dienen« vor, eine Alternative zu den »Zehn Artikeln über Freiheit und Dienst der Kirche« der Konferenz der Leitungen der evangelischen Kirchen in der DDR. Die Alternative war eindeutig. Es gehe eben nicht um Freiheit und Dienst der Kirche, sondern um die Freiheit der Kirche zum Dienen: »So befreit Jesus Christus seine Kirche dazu, ihre Glaubensgerechtigkeit nicht für sich selbst zu behalten, sondern sich bekennend, liebend und dienend der Welt zuzuwenden, deren Sünde er trägt. In dieser Ermächtigung zum selbstlosen Dienen besteht ihre Freiheit.« (7 Sätze, Vorwort)

Nebenbemerkung: Der WAK war ein Arbeitskreis, in dem Theologen ganz unterschiedlicher kirchlicher Profile mitarbeiteten, u. a. auch der Vater von Angela Merkel und der ­spätere evangelische Bischof Albrecht Schönherr. »Sozialismus« war ihnen kein Wort aus der Hölle, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe, die auch ihren persönlichen Dienst erwarten konnte. Das vergrämte viele, denn der Antikommunismus war mit der historischen Zäsur von 1945 nicht ausgestorben. Gerade auch im Raum der Kirche konnte er »überwintern«, bis am 3. Oktober 1990 die Glocken läuteten.

Von der Kirche zur Welt. In Hanfried Müllers leider unvollendet gebliebener Autobiographie »Erfahrungen, Erinnerungen, Gedanken: Zur Geschichte von Kirche und Gesellschaft in Deutschland seit 1945« (2010) lassen sich die Details nachlesen. Auch über sein Engagement in der 1958 von Josef Hromádka in Prag gegründeten CFK, der Christlichen Friedenskonferenz, zu deren Gründungsvätern nicht zufällig auch Hans Joachim Iwand, Martin Niemöller, Heinrich Vogel und Ernst Wolf gehörten – Vertreter der Bekennenden Kirche im antifaschistischen Widerstand. Bei Wikipedia darf man dafür lesen: »Von Historikern und Medien wird die CFK als ›kommunistische Tarnorganisation‹ eingeordnet.« Natürlich.

Weißenseer Blätter

Im Unterschied zur CFK, die sich nach 1989 aufzulösen begann und deren Präsident Ende der 90er Jahre nicht mehr wissen wollte, dass er seit 1978 ihr Präsident gewesen war, erfreuten sich die von Hanfried Müller im Auftrag des »Weißenseer Arbeitskreises« 1982 herausgegebenen Weißenseer Blätter (WBl) mit der als Diminutiv »Wende« verklärten Konterrevolution erst recht einer besonderen Bedeutung, zumal die WBl-Autoren aus Kirche und Welt kamen.

Von Anfang an gehörten die WBl zu der wohl umstrittensten Publikation, die in der DDR je erschien. »Das lag an vielem«, wie es in einem Nachruf im Ossietzky 2006 hieß: »an dem außergewöhnlich breiten Spektrum der Beiträge zu Theologie und Kirche, Politik und Gesellschaft, aber nicht zuletzt auch an der DDR selbst. Allein schon durch ihre Aufmachung konnten die WBl eher für ein handverfertigtes ›Samisdat‹ gehalten werden; und tatsächlich erschienen sie auch im Selbstverlag. Und vor allem: Sie waren tatsächlich nicht in dem Sinne ›systemkonform‹, dass sie für ein Organ lavierender Kirchenleitungspolitik gehalten werden konnten oder für einen publizistischen Multi­plikator politbürokratischer Staatsraison. Denn gegen den mehr oder weniger kaschierten kirchlichen Antikommunismus opponierten die WBl ebenso entschieden wie gegen jenen parteipolitischen Opportunismus, der schließlich als offener Revisionismus faktisch zum Verbündeten der Konterrevolution von 1989 wurde.« So wurden die WBl denn auch auf allen Seiten mit großem Argwohn aufgenommen. Aber: Sie wurden gelesen – auch in der Kirchenleitung und natürlich auch in staatlichen Dienststellen und selbst in der US-amerikanischen Botschaft.

Von der Kirche zur Welt. Das war die Mitte der christologischen Theologie Hanfried Müllers. Die Festschrift zu seinem 80. Geburtstag, zu der 75 Autoren beitrugen, durfte denn auch heißen »Aus Kirche und Welt«.

Dann doch noch eine große Überraschung. Seit 1971 las Müller an der Sektion Theologie der Berliner Humboldt-Universität eine »Evangelische Dogmatik im Überblick«, die 1978 auch als Buch erschien. Und womit beginnt diese Dogmatik? Mit der Gemeinsamkeit von evangelischer und wahrhaft jüdischer Theologie! Und womit endet sie? Ausgerechnet mit einem Zitat eines römischen Papstes! »Nam homo ad errorem lapsus iam non humanitate instructus esse desinit …« (Denzinger 3996, Johannes XXIII.). Der Kampfbegriff »sektiererisch« kann bei Hanfried Müller also getrost gestrichen werden.

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