Gegründet 1947 Donnerstag, 14. August 2025, Nr. 187
Die junge Welt wird von 3019 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 04.08.2025, Seite 12 / Thema
Kirchengeschichte

Feuer und Wasser

Christentum und Sozialismus stehen sich unvereinbar gegenüber, davon war schon August Bebel überzeugt – und ebenso die Amtskirche. Eine Ausnahme war der Pfarrer Arthur Rackwitz
Von Christian Stappenbeck
12-13-onl.jpg
Eine Gedenktafel in der Wilhelmstraße in Berlin-Kreuzberg erinnert an die von den Nazis verfolgten Mitglieder der oppositionellen »Bekennenden Kirche«

Gibt es zwischen Christentum und Sozialismus etwas Verbindendes? Wilhelm Weitling hätte mit »Ja« geantwortet. Ihn, der den »Bund der Gerechten« als Vorläufer des »Bundes der Kommunisten« gründete, könnte man durchaus einen »religiösen Kommunisten« nennen. Der Schneidergeselle und Autodidakt Weitling propagierte eine Form des Klassenkampfes zur Befreiung des Proletariats und verfasste das biblisch motivierte Buch »Garantien der Harmonie und der Freiheit«. – Dreißig Jahre später gab es von August Bebel den harschen unfreundlichen Satz: Christentum und Sozialismus stünden sich wie Feuer und Wasser gegenüber.¹ Denn die Religion, meinte er, ist seit »urdenklichen Zeiten (…) das hauptsächliche Nasführungs- und Ausbeutungsmittel gewesen; einerlei ob die Priesterherrschaft selbst die Staatsgewalt in Händen hatte oder (ob sie) der Staatsgewalt diente«. Bebel wies nachdrücklich den schüchternen Dialogversuch eines katholischen Kaplans zurück, der durch die Lektüre von Friedrich Engels beeindruckt war.²

Denker wie diesen Kaplan Hohoff gab es in der Folgezeit öfter. Seit den 1920er Jahren sammelten sie sich im »Bund religiöser Sozialisten« (BRS). Einer von ihnen, der die Metapher vom Feuer und Wasser gut kannte und bedachte, fragte 1947 im Rückblick auf die Geschichte: »Wird die Kirche jemals auf der Seite derer zu finden sein, die gegen die Geißeln der Menschheit, Kapitalismus und Militarismus, kämpfen?«³ Die Frage bewegte ihn, den Pfarrer und Sozialisten Arthur Rackwitz, seit langem. Im Sommer 1945 aus dem KZ Dachau in seine Berliner Gemeinde zurückgekehrt, meinte er nun, optimistisch sein zu dürfen. Es herrschte Aufbruchstimmung, und so schrieb er an seine Freunde: »Die äußeren und inneren Voraussetzungen für unsere Arbeit sind jetzt günstiger denn je. Sozialisten und Christen, die sich früher oft so feindselig gegenüberstanden, haben sich unter den Verfolgungswellen, die über sie dahingingen, neu kennengelernt als zwei Bollwerke, die Hitler zwar äußerlich unterdrücken, aber nicht innerlich überwinden konnte.«⁴

Allenthalben erwartete man, dass die beiden Arbeiterparteien SPD und KPD einen Neubeginn vollzögen. Rackwitz wurde Mitglied der neuen sozialistischen Einheitspartei. Seine Kirche, die evangelische Kirche von Berlin-Brandenburg, schien jedoch seltsam verstockt, in geschlossener Abwehrhaltung gegen alles, was nach Sozialismus roch. Für Rackwitz aber hatte das Evangelium Jesu eine deutliche Nähe zum Prinzip des Sozialismus, er hätte die eingangs gestellte Frage wie Weitling beantwortet – »ein Christ muss Sozialist sein«. Wer war dieser Pfarrer, gibt es einen Grund, sich mit ihm zu beschäftigen? Hat er Spuren hinterlassen?

»Feuer und Wasser – falsch«

Vor 130 Jahren in Landsberg (heute Gorzów) geboren, erlebte Arthur Rackwitz ein konservatives Elternhaus, in dem jeder Sozialdemokrat als sicherer Anwärter für das Höllenfeuer galt. Mit siebzehn Jahren schlich er dennoch zum kleinen sozialdemokratischen Buchladen und erstand mit Herzklopfen ein marxistisches Buch. Er musste es allerdings »vor Eltern, Lehrern und Mitschülern versteckt (halten), denn im Jahre 1912 galt es in der bürgerlichen Welt, in der ich aufgewachsen war, als geistige Verirrung, ja als moralisches Delikt, von den Sozialisten anders als mit tiefster Verachtung und kategorischer Ablehnung zu sprechen«, berichtet er in einem autobiographischen Text.⁵ 1919 bestand er das theologische Examen, heiratete seine Landsberger Schulfreundin und zog mit ihr nach Möhrenbach in den Thüringer Wald, wo eine Pfarrstelle frei wurde.

Die Einwohnerschaft der kleinen Industriegemeinde war überwiegend »rot«, der Pfarrkonvent dagegen »schwarz-weiß-rot«. Für den 25jährigen Neuling war es alles andere als ein Vergnügen, zwischen den stockreaktionären Anhängern des verflossenen Kaisers zu sitzen. Den Beginn seiner sozialistischen Wirksamkeit beschreibt Rackwitz so: Es fing mit dem Besuch des SPD-Kandidaten und religiös-sozialen Pfarrers Emil Fuchs an. Hier in Möhrenbach hielt Fuchs eine einstündige Wahlrede, anschließend meldete sich Rackwitz zur Debatte: »Es gibt einen Ausspruch von Bebel: Religion und Sozialismus sind wie Feuer und Wasser. Dies ist das einzige Wort aus dem Munde eines Sozialisten, das die Zustimmung weiter kirchlicher Kreise findet und für viele das einzige, was sie vom Sozialismus wüssten. In Wahrheit sei dies Wort falsch … Die Möhrenbacher Arbeiter seien ja zum größten Teil Sozialisten und gleichzeitig Mitglieder der (evangelischen) Kirche.«⁶ In der Folge entstand eine neue Ortsgruppe des BRS.

Die Jahre in Möhrenbach nutzte Rackwitz zur Vertiefung in Marx’ Werk und in die Eigentumsfrage. Er bejahte die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. So trug er sich, im schroffen Gegensatz zur offiziellen Amtskirche, in die Liste für die »entschädigungslose Fürstenenteignung« 1926 ein (ebenso wie er 1946 die Bodenreform unterstützte). Er verstand auch Bebels Urteil bald besser mit Blick auf einige Pastoren, die den Sozialismus quasi »taufen« wollten, um damit das Proletariat vom Klassenkampf abzuhalten. Rackwitz: Wer stets nur auf Gebet und Gottvertrauen pocht, der müsse sich die Frage gefallen lassen, ob er damit den sozialistischen Kampfeswillen steigern oder lähmen will. Nach Jahren in Thüringen erreichte ihn ein Ruf in die Hochburg des religiösen Sozialismus, nach Berlin-Neukölln.

Im sozialen Brennpunkt

Am 18. August 1929 war die Amtseinführung. Der Gemeindesaal war überfüllt, der Berliner Chor des BRS sorgte für festliche Atmosphäre. Rackwitz, der neue Pfarrer der Melanchthon-Gemeinde Neukölln, hielt einen Vortrag mit dem Titel »Wie es kam, dass ich religiöser Sozialist wurde«. Rückblickend pflegte er amüsiert zu erzählen, dass »am Tag nach meiner Einführung in der Roten Fahne, das war die Tagesschrift der Kommunistischen Partei Berlins, ein Bild von mir erschien, und darunter stand gedruckt: ›Der von der SPD zur Volksverdummung nach Berlin berufene Pfarrer Rackwitz!‹ Das war der reine Unsinn, denn nicht die SPD hatte mich gewählt, sondern eine Kirchengemeinde …«⁷ Es war die ultralinke Phase der KPD, ihr Hauptfeind war die Sozialdemokratie.

Neukölln galt als ein besonderer Stadtteil Berlins. Hier gab es die ersten weltlichen (d. h. religionsfreien) Schulen, hier gab es die meisten Arbeitslosen und Rotfrontkämpfer, aber auch mehr Arbeitersportvereine und Kirchenaustritte als anderswo. Die beiden Arbeiterparteien erreichten immer um die 70 Prozent der Stimmen. Ein anschauliches Bild gibt der Rückblick eines Proletariermädchens auf seinen ersten und einzigen Kirchenbesuch:

»Und in Neukölln war unter der Arbeiterschaft die Frage Religion gar kein Thema. Bei uns um die Ecke war eine Kirche, und da haben wir uns zu viert mal aufgemacht, ausgerechnet am Totensonntag, Kirche voll. Und dann fing der da vorne an zu erzählen: ›Ob arm oder reich – im Tode alle gleich.‹ Da haben wir uns gedacht: Du kannst uns doch mal! Raus waren wir wieder! (…) Ich weiß nicht, ich will’s doch jetzt besser haben!«⁸

In diesem Milieu, vom beschaulichen Möhrenbach sehr verschieden, musste Rackwitz sich neu behaupten. Nur die Tatsache, dass er unter stockreaktionären Amtskollegen ein Außenseiter war, blieb gleich. Seine Vorstellung, dass der BRS bei Kirchenwahlen die Gemeindekirchenräte erobern könnte, erwies sich als illusorisch. Konfliktfelder gegenüber der Amtskirche waren die Schulreform, die Friedensarbeit und die Abwehr paramilitärischer Gottesdienste, die gern vom deutschnationalen »Stahlhelm«, mehr und mehr auch von SA-Gruppen veranstaltet wurden. Frühzeitig warnte der Bund der religiösen Sozialisten vor der wachsenden braunen Gefahr.

Bezeichnend für das Verhältnis zwischen dem Bund und der Kommunistischen Partei ist die Notiz aus dem Jahr 1931, welche Rackwitz über die Verhandlungen von vier Pfarrern aus dem BRS mit dem KPD-Abgeordneten Ernst Schneller zur antifaschistischen Zusammenarbeit anfertigte.⁹ Während der Kommunist die harte Parteilinie des »ultralinken Kurses« vertrat, machten die anwesenden religiösen Sozialisten einen Versuch zur Aktionseinheit. Dies war einer von drei vergeblichen Versuchen.¹⁰ Rackwitz zählte sich jedenfalls zu dem auf Kooperation mit der KPD orientierenden Flügel.

Anderthalb Jahre später begann die faschistische Koalitionsregierung Hitler/Papen unter kirchlichem und bürgerlichem Beifall, den Marxismus »mit Stumpf und Stiel« auszurotten und auch den Bund der religiösen Sozialisten zu beseitigen. Ende 1933 waren von Rackwitz’ Kollegen in Neukölln nur drei nicht zu den »Deutschen Christen«, der Nazifraktion in der protestantischen Kirche, übergegangen. Ein krasser Fall war der Pfarrer Walter Steiner von der Nachbargemeinde Nikodemus, der sich brüstete, bei der Pogromnacht vom 9. November 1938 mit seinem SA-Sturm aktiv gewesen zu sein. Als Rackwitz dann verfolgte Juden taufte und aufnahm, »verweigerte der leitende Pfarrer Walter Heine seine Bestätigung … (Denn) den Eintritt von Juden in eine ›volklich geschlossene deutsche Gemeinde‹ könne er ›nicht verantworten‹«.¹¹ Rackwitz ignorierte dies.

Die Gemeindemitglieder, die nicht »Deutsche Christen« wurden, sammelten sich in der »Bekennenden Kirche« (BK) um ihren Pfarrer. Der schloss sich erst spät, nämlich 1936, der Pfarrbruderschaft der BK an¹² (»weil mir ja klar war, dass ich da als einziger Sozialist sein würde und viele Dinge anders sah als die Amtsbrüder«). Er hielt weiterhin, ohne sich äußerlich zu exponieren, Verbindung zu den sozialistischen Freunden, half Gefährdeten bei der Ausreise, versteckte Verfolgte in seiner Wohnung. Auch die Tochter des im KZ ermordeten Kommunisten Ernst Schneller nahm er in seine Familie auf. Bei Rackwitz wurde im Gottesdienst – es erscheint heute selbstverständlich, was es keineswegs war – nie für den Sieg Deutschlands gebetet. Im geistig-moralischen Sumpf der Pfarrerschaft Neuköllns blieb er ein Leuchtturm. Trotz mehrerer Denunziationen hatte er lange Zeit Glück, bis zu dem Tag, da er dem Widerstandskämpfer Ernst von Harnack, einem Mitglied des BRS, Zuflucht und Unterschlupf gewährte. Die Verhaftung Harnacks brachte Rackwitz ins KZ.

Brüder und Genossen

Die überlebenden, aus dem Widerstand oder Exil kommenden Freunde des Bundes erwarteten nach dem 8. Mai 1945 eine neue, fruchtbare Begegnung zwischen den Kirchen und der Arbeiterschaft. Rackwitz war wieder Mitglied der SPD. Unter dem Namen »Arbeitskreis Religiöser Sozialisten« (ARS) versammelte er seit März 1946 monatlich einen wachsenden Kreis. Ein parteiamtliches Grundsatzpapier aus demselben Jahr mit dem Titel »SED und Christentum. Eine notwendige Klarstellung« trägt die Unterschriften von Pieck und Grotewohl, zeigte aber in seinem Stil deutlich die Handschrift von Rackwitz.¹³ Es gipfelte in der Feststellung, dass die Zugehörigkeit zur Kirche kein Hinderungsgrund für eine Mitgliedschaft in der marxistischen Partei sei.

Über das Selbstverständnis des ARS und seine Wirksamkeit nach außen wird berichtet: Man arbeitete an der Positionsfindung, was mit regelmäßigen Versammlungen und thematischen Vorträgen verbunden war.¹⁴ Zum andern war da Rackwitz’ Öffentlichkeitsarbeit mit Artikeln im Neuen Deutschland, im Tagesspiegel, in Zeitschriften wie Unterwegs und durch Rundfunkansprachen. Hinsichtlich der Frage der Konfessionslosigkeit vieler Sozialisten äußerte er – in Umkehrung der berühmten Formel von der Religion als Privatsache –, der Atheismus von Marxisten sei deren Privatsache und gehöre nicht ins Parteiprogramm.¹⁵ Zum dritten gab es ein direktes parteipolitisches Engagement. Kürschner, Rackwitz und andere übten Einfluss über die Kulturabteilungen beim Zentralausschuss der SPD (später beim Zentralsekretariat der SED) aus, auch personalpolitisch. So bekam der betagte religiös-soziale Nestor Emil Fuchs 1949 eine theologische Professur in Leipzig.

Nach wie vor gehörte Rackwitz zum Kreis der Berliner BK-Pfarrer. Hier begegnete er dem nicht neuen, doch bösartigen Vorwurf, religiöse Sozialisten würden die Gemeinde »politisieren« – und seien darum nicht besser als die »Deutschen Christen«. Rackwitz wies solcherart Gleichsetzung mit Empörung zurück. Dass er in Pfarrerkonventen einsam blieb, erschütterte ihn nicht. Er wusste zudem, dass bei der »Bekennenden Kirche« in Deutschland eine Unterscheidung wichtig war. Denn da gab es seit Mitte der 30er Jahre einen konsequent-bekenntnistreuen Flügel, dem Schweizer Karl Barth nahestehend, genannt die »Dahlemiten«. Zu ihnen gehörte unter anderem der Dahlemer Pastor Martin Niemöller. 1947 bekannten sie (nach Textentwürfen von Barth und anderen) in ihrem Darmstädter »Wort zum politischen Weg unseres Volkes« mehrere Irrwege des Protestantismus und äußerten damit Erkenntnisse, die dem religiösen Sozialismus seit langem geläufig waren. Zitat:

»Wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, eine ›christliche Front‹ aufzurichten gegenüber notwendig gewordenen Neuordnungen im gesellschaftlichen Leben der Menschen. (…) Wir haben es unterlassen, die Sache der Armen und Entrechteten gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich zur Sache der Christenheit zu machen.«¹⁶

Genau das hatte Rackwitz vor zwanzig Jahren schon gewusst und öffentlich vertreten.

Zu dem anderen Flügel gehörte die Mehrheit der Berliner Amtsbrüder, die das Darmstädter Wort entschieden ablehnten. Anlässlich eines Streitgesprächs unter Pfarrern um die Bodenreform musste sich Rackwitz anhören, dass heutzutage (1946) nicht mehr die Proletarier, sondern »die enteigneten Großgrundbesitzer, die alten Offiziere, die aus ihren Stellungen verdrängten Nationalsozialisten« unsere ärmsten Brüder seien.¹⁷

Enttäuschung

Das Zusammengehen der beiden Arbeiterparteien hatte Rackwitz mit Begeisterung erfüllt. Anderthalb Jahre nach dem Berliner Vereinigungsparteitag schrieb er, nunmehriges SED-Mitglied, an einen westdeutschen Bundesfreund¹⁸: »Lieber Eckert! Herzlichen Dank für Deinen Brief! Er zeigt mir zu meiner großen Freude, wie nahe wir uns trotz der langen Trennung geblieben sind. Ich würde mir die Augen aus dem Kopf schämen, wenn ich heute noch bei der unmöglichen SPD stände, und bin mit meiner Frau sehr glücklich, dass uns die Einigung hier im Osten den Weg in die SED eröffnet hat …«¹⁹ Zwei Jahre später hätte er so nicht mehr geschrieben.

Die Zeit ab 1949 wurde für Rackwitz zu einer kirchlichen und einer politischen Enttäuschung. In der SED gewann die »harte Linie« (wie sie 1931 vom erwähnten KPD-Mann Ernst Schneller vertreten wurde) an Gewicht.²⁰ Rackwitz’ Broschüre »Der Marxismus im Lichte des Evangeliums«, im Auftrag der Partei in hoher Auflage 1948 gedruckt, wurde plötzlich ohne Absprache aus dem Verkehr gezogen. Getäuscht fühlte er sich in seiner Erwartung, dass die Einheitspartei das progressive Erbe von SPD und KPD paritätisch bewahren würde; er irrte sich auch darin, wie die Rechtssicherheit im Osten sich entwickeln würde.

In seiner ausführlichen persönlichen Stellungnahme vom August 1951 anlässlich der SED-Mitgliederüberprüfung (Umtausch der Parteidokumente) schrieb Rackwitz: »Niemals kann irgend eine Partei für mich als religiösen Menschen, als gläubigen Christen die letzte und höchste Instanz sein (…). Ich kann nicht darauf verzichten, neben unserer Parteipresse auch gegnerische Zeitungen zu lesen, ich kann nicht alles, was geschieht, einseitig durch die Parteibrille sehen (…). Ich muss mir über jede Frage meine eigenen Gedanken machen können. Ich glaube auch, dass ich ein untaugliches Objekt für Erziehungs- oder Schulungsversuche durch die Partei bin.«²¹ Ein Jahr später gab es den Trennstrich zwischen Rackwitz und der SED.

Trotz seiner Enttäuschung hat Rackwitz die Dämonisierung der DDR nicht mitgemacht, hat nicht mit dem Antikommunismus geliebäugelt oder ihm ein Weihrauchkorn gestreut. Das wurde beispielsweise nach dem 17. Juni 1953 ganz deutlich, als Zeitgenossen wie Bischof Dibelius plötzlich und unerwartet ihr Herz für die Arbeiterklasse und deren Aufsässigkeit entdeckten.²² Rackwitz hielt das für verlogen und äußerte sich in einer Schweizer religiös-sozialen Zeitschrift mit einer Stellungnahme, worin er die Legenden des Westens als billige und bequeme Propaganda charakterisierte. »An allen Nöten, die sich irgendwo zeigen, sind nun nicht mehr der Nationalsozialismus und der totale Krieg schuld, sondern nur noch ›der Russe‹ oder ›das unmenschliche kommunistische System‹ oder die SED oder die Pankower Regierung …«, schrieb er spöttisch.²³

Der Arbeitskreis ARS, der in starkem Maße von der Energie seines Leiters abhing, trat in den 1950er Jahren nicht mehr in Erscheinung; ob er regulär aufgelöst wurde, ist nicht bekannt. Freunde ehrten Rackwitz zu seinem 80. Geburtstag mit einer Festschrift; Martin Balzer nannte ihn darin einen höchst bedeutenden Vertreter der religiös-sozialistischen Bewegung, der nach 1945 ein echter Partner der Arbeiterbewegung blieb.²⁴

Rackwitz bleibt ein Beispiel, ein Maßstab, der zeigt, was an Urteilskraft und Einsicht auch unter seinesgleichen, in seinem traditionellen pfarramtlichen Umfeld möglich war. Man könnte ihn als historisches Phänomen abtun, wenn nicht zwei durch ihn gestellte Fragen unverändert aktuell blieben: Wird die Kirche jemals auf seiten derer zu finden sein, die gegen die Geißeln Kapitalismus und Militarismus kämpfen? Und: Werden die Revolutionäre dereinst besser handeln als Ernst Schneller und die KPD vor 1933 – die angebotene Bündnishand ernst nehmen? Auch ohne eine Theorie zur Hand zu haben, einfach darum, weil der gesunde Menschenverstand zur Einsicht führt, dass sich bei essentiellen Fragen wie dem Frieden die Vernünftigen aus verschiedenen Lagern zusammentun müssen.

Anmerkungen

1 August Bebel: Offene Antwort an Hrn. Kaplan Hohoff in Hüffe. In: Der Volksstaat, Organ der SDAP und der Gewerksgenossenschaften, Ausgaben vom 20. Februar/3. März 1874

2 Zur Bebel-Hohoff-Kontroverse siehe Horst Junginger: Atheistischer und religiöser Sozialismus. Ein Widerspruch in sich? In: Religion und Sozialismus. Feuer und Wasser? Hrsg. von Joachim Heise und Horst Junginger, Berlin 2023, S. 12–22

3 Gerhard Jankowski und Klaus Schmidt (Hrsg.): Arthur Rackwitz. Christ und Sozialist zugleich. Hamburg 1976, S. 114

4 Jankowski/Schmidt, S. 35 – Einige grundsätzliche Erwägungen dazu veröffentlichte Rackwitz im Mai 1948 unter dem Titel »Der Marxismus im Lichte des Evangeliums. Untersuchungen über das Kommunistische Manifest«, erschienen im SED-eigenen Allgemeinen Deutschen Verlag, Berlin.

5 Arthur Rackwitz: Aus dem Leben eines sozialistischen Pfarrers, in: Neues Deutschland, Jg. 1, Nr. 122 vom 14. September 1946, S. 3

6 Zitiert nach Olaf Meyer (Hrsg.): Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit. Arthur Rackwitz zum Gedächtnis. Berlin (im Selbstverlag) 1982, S. 84

7 Meyer, S. 106

8 Ulrich Peter: Der ›Bund der religiösen Sozialisten‹ in Berlin von 1919 bis 1933. Geschichte – Struktur – Theologie. Frankfurt am Main 1995, S. 590. Eine eingehende Fallstudie über »Das Neuköllner Beispiel« findet sich bei Peter, S. 133–225.

9 Meyer, S. 37f., und Peter, S. 348f. (Gespräch am 12.10.1931)

10 Nach einem weiteren Gespräch ein Jahr später stellte Pfarrer Piechowski am 22. Dezember 1932 fest: Dem KPD-Vertreter Schneller sei an einem »Brückenbauen nichts gelegen, da es zu einer Schwächung des Klassenkampfes führen würde« (Peter, S. 349). Ernst Schneller verfocht die »Sozialfaschismusthese«. Eine für Januar 1933 geplante weitere Besprechung mit der KPD fand offenbar nicht mehr statt.

11 Mitgeteilt von Christian Nottmeier: Als die Nazis kamen. Eine historische Nahaufnahme aus Berlin-Neukölln. In: Publik-Forum 16/2024, S. 35

12 Nach Rackwitz’ Erinnerungen, Meyer S.115. Die konservativ-bekenntnistreue BK mit eigenen Kirchenorganen richtete sich gegen Eingriffe der Nazis in kirchliche Lehre und Belange, war im übrigen aber zu 90 Prozent deutsch-national.

13 Jankowski (siehe Anm. 4), S. 29 Anm. 11 und S. 95

14 Jankowski, S. 34 und 36. Die im ARS erarbeiteten »Vorläufigen Grundsätze« sind abgedruckt ebd. S. 85 f. Darin wird als Ziel die »Sicherung der Menschenrechte und der Menschenwürde« durch Überwindung der Klassengesellschaft genannt.

15 Arthur Rackwitz: Der Marxismus im Lichte …, siehe Anm. 4

16 Zit. nach Hanfried Müller: Evangelische Dogmatik im Überblick, Teil 2. Berlin 1978, S. 303

17 So Rackwitz im Rundbrief vom 28. Juli 1947, zit. nach Jankowski, S. 49

18 Erwin Eckert war in den 1920er Jahren Vorsitzender des »Bundes der religiösen Sozialisten Deutschlands«, 1931 Ausschluss aus der SPD, tags darauf nach Gesprächen mit Wilhelm Pieck und anderen Eintritt in die KPD; aus dem Pfarrdienst unter Verlust sämtlicher Versorgungsbezüge entlassen. Zur Nachkriegswirksamkeit siehe Friedrich-Martin Balzer (Hrsg.): Erwin Eckert. Antifaschismus – Frieden – Demokratie, 2 Bände. Essen 2021

19 Brief vom 1. Dezember 1947, Peter, S. 688, Anm. 340

20 Einige Kennzeichen der Wandlung zur »Partei neuen Typus«: Kampf gegen Sozialdemokratismus, periodische Säuberung, Fraktionsverbot mit Unterwerfungszwang; vgl. Anm. 10

21 So Rackwitz am 29. August 1951 im Fragebogen anlässlich der Mitgliederüberprüfung der SED; nach Jankowski S. 106

22 Rackwitz zitiert den evangelischen Bischof aus dessen Rundfunkansprache nach dem 17. Juni 1953: »Die Kirche hat kein Hehl daraus gemacht, dass ihr Herz bei dem deutschen Arbeiter ist, der in diesen Tagen gegen eine diktatorische Gewalt aufgestanden ist …«. Jankowski, S. 118

23 Arthur Rackwitz: Eine Stimme aus Berlin, in: Neue Wege. Beiträge zu Religion und Sozialismus, Zürich, Jg. 1953, Nr. 83/9, zit. n. Meyer, S. 22

24 Friedrich-Martin Balzer: Ein Christ für den Sozialismus, in: Jankowski, S. 16

Christian Stappenbeck schrieb an dieser Stelle zuletzt am 20. Mai 2025 über das Konzil von Nicäa vor 1.700 Jahren: »Anfang einer Symphonie«

75 für 75

Mit der Tageszeitung junge Welt täglich bestens mit marxistisch orientierter Lektüre ausgerüstet – für die Liegewiese im Stadtbad oder den Besuch im Eiscafé um die Ecke. Unser sommerliches Angebot für Sie: 75 Ausgaben der Tageszeitung junge Welt für 75 Euro.

 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (5. August 2025 um 13:50 Uhr)
    »Die Menge aber der Gläubigen war ein Herz und eine Seele; auch nicht einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam.« So steht es in der Apostelgeschichte (Apg 4, 32). Von seinen Ursprüngen her ist das Christentum damit keineswegs inkompatibel mit dem Sozialismus. Religion passt sich vielmehr regelmäßig an die Lebenskontexte der Menschen an. Obrigkeitskritische Momente (nicht nur Jesu Randale im Tempel) verloren in einer obrigkeitsgeprägten Welt logischerweise gegenüber obrigkeitshörigen Aspekten (Römer 13, 1) an Gewicht. Die Aufklärung hatte dem Christentum die Freude an der Verfolgung von Hexen und Ketzern geraubt. In moderner Zeit verlor die im Judentum einst weit verbreitete Überzeugung, die Rückkehr ins Heilige Land sei der Zeit des Messias vorbehalten, deutlich an Relevanz mit der weltlich-zionistisch angetriebenen Eroberung Palästinas. Es ist klar, dass in einer kapitalistischen Welt auch ein kapitalistisches Religionsverständnis einen Selektionsvorteil genießt. Protestantische Ethik sieht in wirtschaftlichem Erfolg vielfach einen Beweis für den Segen Gottes. Dem liegt – wie jeder Religiosität – die assoziative Natur des menschlichen Denkens zugrunde, die personale Denkstrukturen sachfremd auf nicht-personale Zusammenhänge anwendet. Hinter dem erfrischenden Wasser einer Quelle eine Nymphe zu postulieren, ist genau dasselbe, wie hinter dem wirtschaftlichen Erfolg das Wirken Gottes zu postulieren. Man kann es diminuierend als Einbildung bezeichnen oder positiv als Spiritualität. Auf jeden Fall ist es aber menschliche Natur, die auch im Sozialismus nicht abgeschaltet werden kann. Man kann sie allerdings mit Feuerbach rational reflektieren. Und man kann ihre psychische Kraft durchaus auch für Zwecke der Menschlichkeit einsetzen, das ist jedenfalls besser, als sie für Zwecke von Diktatoren oder Königen zu instrumentalisieren oder – das Kind mit dem Bade ausschüttend – ganz zu verbieten.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Martin M. aus Paris (4. August 2025 um 22:25 Uhr)
    Rackwitz könnte rückblickend als ein »Vorläufer bzw. -denker« der Befreiungstheologie gelten – die heute auch an Einfluss verloren hat –, obwohl Letztere sich meines Wissens nicht auf ihn bezogen hat.

Ähnliche:

  • Was ist die Partei? SED-Demonstration in Görlitz (undatiert)
    17.04.2021

    Die Sammlungspartei

    Illusion eines »antifaschistisch-demokratischen Gesamtdeutschlands«: Anmerkungen zum 75. Jahrestag der Gründung der SED
  • Karl Litke, Wilhelm Pieck, Katharina Kern, Otto Grotewohl, Hans ...
    21.04.2016

    Die Einheitspartei

    Vor 70 Jahren wurde die SED gegründet

Regio:

                                                                 Aktionsabo: 75 Ausgaben für 75 Euro