Der Witz der Variationen
Von Gisela Sonnenburg
Eine Geschichte kann man so oder so oder noch ganz anders erzählen. Um diese Tatsache rankt sich das legendäre Buch »Stilübungen« von Raymond Queneau. Rund hundertmal erzählt der Autor darin eine Anekdote aus einem Bus im Jahr 1947 in Paris. Jedes Mal tut er das in einem anderen Stil und in neuem Format. Der Berliner Jazzmogul Hannes Zerbe nimmt dieses Prinzip zum Anlass für seine eigene Arbeit. »Stilübung mit Hannes Zerbe« heißt darum die neue Folge der Reihe »jW geht Jazz«: am Dienstag, den 4. November, in der Maigalerie der jungen Welt in Berlin-Mitte.
Zerbe, der 1941 in Litzmannstadt geboren wurde und seit 1969 Berufsmusiker ist, gilt als Meister des Jazz, am Piano ebenso wie bei der Komposition. Und natürlich bei der Improvisation, die ein wesentlicher Bestandteil des Jazz ist. 2021 erhielt Hannes Zerbe denn auch den Jazzpreis Berlin. Der jungen Welt ist er seit über einem Jahr durch die von ihm kuratierte Jazzkonzertreihe, die einmal monatlich stattfindet, eng verbunden.
Mit Gedichten hatte Zerbe es schon des öfteren in seinem Musikerleben zu tun. Poesie von Bertolt Brecht, Heiner Müller, Erich Fried, aber auch von Gottfried Benn hat ihn zu ergreifend flippigen Tönen inspiriert. Jetzt also Raymond Queneau. Der wurde mit seinem auch verfilmten Roman »Zazie in der Metro« weltbekannt. Und schon Jean-Paul Sartre witterte Musik in der Dichtung von Queneau: Er animierte den Komponisten Joseph Kosma, ein Gedicht von Queneau zu vertonen. Keine geringere Chansonette als Juliette Gréco machte es dann zu einem Erfolg.
Hannes Zerbe in Berlin wiederum wird eine Fülle an Stilen aufbieten, wenn er am Dienstag mit einem Trio weiterer Mitwirkender auftritt. Mit dabei sind: die aus Film und Fernsehen bekannte Schauspielerin Heide Bartholomäus, deren intensive Stimme ein wesentlicher Teil der Darbietung sein wird; der über die Grenzen Berlins hinaus bekannte Klarinettist Jürgen Kupke, dem Zerbe schon seit 1995 musikalisch verpartnert ist; der Kontrabassist Horst Nonnenmacher, der aus Tübingen stammt und der zunächst klassischen Kontrabass studierte. Aber auch er spielt schon seit Jahrzehnten mit Zerbe.
Sehen wir uns mal die Inspirationsgrundlage für Dienstag genauer an. »Der Autobus / voll / das Herz / leer«, so heißt es in Versform in den »Stilübungen« bei Raymond Queneau. Zu dieser etwas knappen, aber pathetischen Mitteilung über die Alltagstristesse gesellt sich noch eine romantische Ironie: »die Füße / platt / platt und plattgetreten« – man muss unwillkürlich schmunzeln. Richtig hintersinnig wird die Anekdote, die von einem jungen Mann handelt, aber erst später. Denn zunächst beschwert sich der Held erfolglos bei einem Mann, der andere im Bus anrempelt. Ganze zwei Stunden danach wird ihm dann von einem Dritten gesagt, dass ihm ein Knopf am Mantel fehle.
Ob Queneau mit der Aneinanderfügung dieser Geschehnisse auf die Oberflächlichkeit der Menschen hinweisen wollte, oder ob er lediglich den Zufall in der Welt beleuchten mochte, ist nicht sicher zu entscheiden. Aber beide guten Absichten darf man jetzt Hannes Zerbe und seinem Trio bescheinigen, wenn die Musiker im Sinne Queneaus loslegen und ein Thema mit schier unzähligen Variationen ausreizen werden.
Da mag es den Zuhörerinnen und Zuhörern ähnlich wie Zazie in der Metro ergehen: Witz und eine überquellende Fülle von verschiedensten Stilen und Vorgängen könnten eine Verkehrung der ursprünglichen Pläne bewirken. Hoffentlich wird es darum auch Zugaben geben!
Hannes Zerbe, Heide Bartholomäus, Jürgen Kupke und Horst Nonnenmacher musizieren am Dienstag, 4. November 2025, um 19.30 Uhr (Einlass ab 19 Uhr) in der Maigalerie der jungen Welt, Torstraße 6, 10119 Berlin. Eintritt: 10 Euro (erm. 5 Euro), Anmeldung erbeten unter: 030 / 53 63 55-54 oder maigalerie@jungewelt.de
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