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Aus: Ausgabe vom 03.11.2025, Seite 11 / Feuilleton
Literatur

Literatur ist gefährlich

Zum 100. Geburtstag des Schriftstellers Dieter Wellershoff
Von Werner Jung
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Umgang mit Extremsituationen: Dieter Wellershoff (3.11.1925–15.6.2018)

Zunächst das Biographische: Am 3. November 1925 in Neuss geboren, besuchte Dieter Wellershoff dort ab 1936 das Gymnasium, ehe er sich 1943 freiwillig zum Kriegsdienst meldete. An der Ostfront eingesetzt, wurde Wellershoff 1944 in Litauen verwundet und geriet 1945 kurzzeitig in US-amerikanische Kriegsgefangenschaft. 1946 erhielt er das Abitur für Kriegsteilnehmer und studierte anschließend Germanistik, Psychologie und Kunstgeschichte an der Universität Bonn. Hier 1952 mit einer Arbeit über Gottfried Benn zum Dr. phil. promoviert, arbeitete er danach als Redakteur der Deutschen Studentenzeitung in Bonn und lebte ab 1955 als freier Schriftsteller. Von 1959 bis 1981 war Wellershoff als Lektor für Wissenschaft und deutsche Literatur beim Verlag Kiepenheuer & Witsch in Köln angestellt. Dabei entwickelte er u. a. das Konzept der »neuen wissenschaftlichen Bibliothek«, in der Standardtexte aus Philosophie, Sozialwissenschaften, Geschichte und Politologie in preiswerten Paperback-Ausgaben auf den Markt gebracht wurden, noch bevor der Frankfurter Suhrkamp-Verlag mit ähnlichen Ambitionen auftrat. Außerdem war er für die neuere deutsche Literatur zuständig und entdeckte für den Verlag eine Reihe von Autorinnen und Autoren, die er förderte, etwa Rolf Dieter Brinkmann, Nicolas Born, Renate Rasp oder Günter Steffens. Wellershoff starb am 15. Juni 2018 in seiner Wahlheimat Köln.

Schwierige Kommunikation

Nun das Literarische: Wellershoff schrieb im Lauf der 1950er und zu Beginn der 1960er Jahre eine Reihe zum Teil preisgekrönter Hörspiele, die vom Existentialismus dieser Zeit beeinflusst waren und die Lebens- und Denkweisen der Menschen während der »Wirtschaftswunderjahre« in der Bundesrepublik thematisierten: den Kampf um Wohlstand und Zufriedenheit, das restaurative Klima der Adenauer-Jahre (etwa bezüglich Abtreibungen), Kommunikationsprobleme zwischen den Geschlechtern. Diese Sujets entwickelte Wellershoff seit Mitte der 1960er Jahre in seinen Prosatexten kontinuierlich weiter, in denen es immer darum ging, Lebenskrisen darzustellen, Beziehungsmuster in Frage zu stellen, das Leiden der Menschen an sich selbst und an den anderen, an der Umwelt und der Gesellschaft literarisch auszuleuchten. Der Protagonist etwa aus »Die Schattengrenze« (1969), Wellershoffs zweitem Roman, lässt sich in dunkle Machenschaften und Geschäfte verstricken. Kommissar Bernhard in »Einladung an alle« (1972) scheitert daran, ein Buch zu schreiben, und findet seine Bestimmung in der Jagd auf einen Kleinkriminellen. Der Protagonist in »Die Schönheit des Schimpansen« (1977) leidet an einer tiefen, unverarbeiteten Kränkung, erst ermordet er eine Unbekannte, dann begeht er Suizid. Der scheinbar erfolgreiche Unternehmer Ulrich Vogtmann aus »Der Sieger nimmt alles« (1983) wird von windigen Partnern in riskanten Geschäften um Firmenimperium, Familie und Leben gebracht. Das Scheitern von Beziehungen thematisierte Wellershoff in seinem 2006 verfilmten Bestseller »Der Liebeswunsch« (2000) am Beispiel zweier Paare. Diese Variationen beschädigter Existenzen, die Wellershoff in insgesamt sieben Romanen, zwei Novellen und zahlreichen Erzählungen entwarf, trugen ihm bei der Literaturkritik den unberechtigten Vorwurf ein, ein Vertreter der sogenannten Neuen Subjektivität zu sein.

Neuer Realismus

Zu Ästhetik und Poetik: Parallel zu seinen Prosaarbeiten entwickelte Wellershoff seine Poetologie. Anfang 1965 argumentierte er in »Neuer Realismus« (in: Die Kiepe 13) gegen etablierte Schreibverfahren und richtete sich sowohl gegen die Autorinnen und Autoren der Gruppe 47 als auch gegen Anhänger der Stuttgarter Schule von Max Bense und die Vertreter der Konkreten Poesie. Wellershoff plädierte für radikal subjektive Perspektiven in der Erzählhaltung und für sinnlich konkrete Erfahrungsausschnitte. Das richtete sich sowohl gegen den traditionellen, bieder wirkenden Realismus vom Schlage Heinrich Bölls als auch gegen damals modische Verfahrensweisen des Grotesken und Absurden, etwa bei Günter Grass oder Wolfgang Hildesheimer. Entscheidend für seine Poetik des Neuen Realismus waren dabei die Erlebnisse des Zweiten Weltkriegs, über die Wellershoff etliche Essays, Vorträge und autobiographische Erzählungen schrieb (u. a. »Der Ernstfall«, 1997). Sie hatten ihm die Zufälligkeit der menschlichen Existenz vor Augen geführt. Er entwickelte eine starke Aversion gegen »Totalitarismen«, aber auch einen tiefen Optimismus bezüglich der Möglichkeiten einer offenen, liberalen Gesellschaft. Das schloss einen kritisch-abwägenden Blick auf die faktischen Verhältnisse in der jungen Bundesrepublik ein. Wellershoff wies wiederholt darauf hin, dass Literatur für den Leser gefährlich sein könne – weil sie ihn mit Erfahrungen konfrontiere, die er in seinem Alltag gewöhnlich zu vermeiden suche.

Pünktlich zu Dieter Wellershoffs 100. Geburtstag hat Markus Schwering, der für den Kölner Stadt-Anzeiger das Werk Wellershoffs über viele Jahre rezensierend begleitete, das Buch »Krise und Utopie. Dieter Wellershoff. Leben und Werk« vorgelegt. Auf bestechende Weise behandelt Schwering darin die zentralen Begriffe von Wellershoffs Werk, seiner Poetik und Ästhetik. Systematisch werden alle Texte auf die titelgebenden Begriffe Krise und Utopie, sowie Eros, Tod, Mythos, Traum und Existenz durchgegangen. Der Mehrwert, der in einem solchen Verfahren liegt, wird freilich durch vielfache Redundanzen ein wenig getrübt. Schwerings Monographie ist dennoch lesenswert, auch weil sie die gesamte einschlägige Philologie auszuwerten versteht. Mit ihr liegt nach langer Zeit wieder eine Deutung des Gesamtwerks Wellershoffs vor.

Unbehauste Menschen

Von ganz anderem Anspruch ist das schmale Büchlein des Schriftstellers Peter Henning, der während der letzten fünf Lebensjahre Wellershoffs dessen enger Vertrauter gewesen ist. In »Vom Leben berührt« erfährt der Leser vergleichsweise wenig über das Werk, hält jedoch eine anrührende Erzählung über die Geschichte einer Autorenfreundschaft in Händen. In Wellershoff erkennt Henning einen Wahlverwandten, dessen Ansporn zum Schreiben weitgehend der gleiche war wie bei ihm. Er zeichnet das Bild eines existenzialistisch geprägten Schriftstellers, der die »Gefährlichkeit der Welt« der transzendental unbehausten Menschen schildert. Hennig beschreibt seinen Freund mit Recht als einen skeptischen Aufklärer, dessen Literatur »einen grundsätzlichen Umgang mit Extremsituationen« gezeigt hat, »die seine Geschöpfe durchleben müssen, um sie als Selbstprüfungen zu gestalten, an denen sie wachsen können«.

Einem spezifischen Aspekt von Wellershoffs Schaffen ist das im Düsseldorfer Lilienfeld-Verlag erschienene Buch »Die Stadt ist wie ein ungeheures Buch« gewidmet. In ihm sind verschiedene Texte des Schriftstellers zu und über die Stadt Köln versammelt, Erzählerisches, autobiographische Schriften, aber auch Essays in hybrider Form, wie sie Wellershoff häufiger verfasst hat. Neues findet sich allerdings nicht darunter, sämtliche Texte finden sich bereits in der neunbändigen Werkausgabe bei Kiepenheuer & Witsch. Leider hat die Herausgeberin beim Wiederabdruck von Wellershoffs erstem Köln-Buch, das unter dem Titel »Pan und die Engel« 1990 erschien und in »Die Stadt ist wie ein ungeheures Buch« den meisten Platz einnimmt, auf die damals beigefügten Zeichnungen von Dieter Wellershoff verzichtet, die in Korrespondenz mit den Texten stehen.

Große Fragezeichen müssen schließlich noch hinter das Vorgehen von Wellershoff-Hausverlag Kiepenheuer & Witsch gesetzt werden, der es nicht für nötig befunden hat, mit Wiederauflagen einzelner Titel das Œuvre seines Autors zum 100. Geburtstag einer breiteren Öffentlichkeit wieder in Erinnerung zu rufen.

Markus Schwering: Krise und Utopie. Dieter Wellershoff – Leben und Werk. Böhlau-Verlag, Köln 2025, 419 Seiten, 39 Euro

Peter Henning: Vom Leben berührt. Erinnerungen an Dieter Wellershoff. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025, 112 Seiten, 16 Euro

Dieter Wellershoff: Die Stadt ist wie ein ungeheures Buch. Ansichten von Köln. Hg. v. Gabriele Ewenz. Lilienfeld-Verlag, Düsseldorf 2025, 250 Seiten, 24 Euro

Der Autor hat herausgegeben: »Verborgene Texte des Lebens«. Dieter Wellershoff – Ein Lesebuch. Aisthesis-Verlag, Bielefeld 2022, 350 Seiten, 28 Euro

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