»Scholastizid« in Gaza
Von Helga Baumgarten
Der Mediziner Aschraf Al-Dschedi wurde am 24. Oktober 2024 durch einen israelischen Bombenangriff im Flüchtlingslager Nuseirat südlich von Gaza-Stadt getötet. Mit ihm starben weitere 14 Menschen. Al-Dschedi war bis zu seinem Tod Dekan des Seminars für Krankenpflege an der Islamischen Universität Gaza. Er hatte an der Universität Bielefeld mit einem deutschen Stipendium promoviert. Sein Vorgänger Nasser Abu Al-Nur war am 23. Februar 2024 in den Tod gebombt worden, zusammen mit seiner gesamten Familie. Der letzte Präsident der Islamischen Universität, Sufian Tajeh, und seine Familie waren schon am 2. Dezember 2023 im Flüchtlingslager Dschabalija durch einen Luftangriff ermordet worden. Tajeh war ein international bekannter Professor der theoretischen Physik und angewandten Mathematik. Refaat Alareer schließlich, Professor für Literatur und kreatives Schreiben an der Islamischen Universität, wurde am 6. Dezember 2023 wohl gezielt ermordet, er war gerade 43 Jahre alt. Eines seiner Gedichte ist inzwischen weltweit bekannt: »Wenn ich sterben muss, / lass es Hoffnung bringen, / lass es eine Erzählung sein«.
Das sind nur einige wenige Beispiele eines in der Geschichte wohl einmaligen »Scholastizids«, auf deutsch: Gelehrtenmords. Karma Nabulsi von der Universität Oxford hat den Begriff schon 2009 geprägt, nach Israels damaligen tödlichen Angriffen auf Gaza. Er soll hervorheben, wie Israel versucht, die palästinensische Nation auszuradieren. Die Bilanz bis Sommer 2024: Drei Universitätspräsidenten wurden umgebracht, 17 Professoren mit einem eigenen Lehrstuhl und 59 Assistenz- und assoziierte Professoren. Im Juni 2025 zeigte ein detaillierter UN-Bericht ein »genozidales Muster israelischer Angriffe auf palästinensische Zentren der Erziehung, der Kultur und der Religion«. Israel wird deshalb »des Verbrechens der Vernichtung« schuldig gesprochen. Es habe Gazas Erziehungssystem zerstört »mit langfristigen schädlichen Folgen für Kinder und Jugendliche und für die Identität des palästinensischen Volkes«. Inzwischen war die Zahl der ermordeten Akademiker auf über 190 angestiegen.
Im Juli wandten sich die Präsidenten der drei großen Universitäten in Gaza, Al-Aksa, Al-Azhar und die Islamische Universität, an die internationale akademische Gemeinschaft. Sie betonten in ihrem Appell, dass Israels »Scholastizid eine strategische Zerstörung der Grundlagen der Universitätsbildung und einen systematischen Krieg gegen Erziehung und Bildung darstellt«. Sie bitten deshalb um langfristige Partnerschaft und Unterstützung für den Wiederaufbau der Universitäten und der akademischen Lehre in Gaza.
Ein Bericht des palästinensischen Erziehungsministeriums von Anfang der Woche berichtet von circa 20.000 getöteten und mehr als 30.000 verwundeten Schülern und Studenten in Gaza. Außerdem wurden fast 800 Lehrer und etwa 240 Akademiker ermordet. Dabei wird der »Scholastizid« in Gaza und in Palästina, wie Maya Wind in ihrem Buch »Towers of Ivory and Steel: How Israeli Universities Deny Palestinian Freedom« zeigt, von israelischen Universitäten unterstützt. Das begann schon in den »Kriegen« gegen Gaza 2014 und 2021. Den Höhepunkt erreichte dieser »explizite Scholastizid« jedoch seit 2023 mit der »absichtlichen Zerstörung der palästinensischen Zentren für Bildung«. Hochschulen wurden von Anfang an bombardiert oder mit kontrollierten Explosionen am Boden in die Luft gejagt. Wie die Linke-Abgeordnete Nicole Gohlke am Montag im Blog Etos-Media schrieb, haben deutsche Universitäten nur eine Antwort darauf: Zensur und Selbstzensur.
Raphael Lemkin, der den Begriff Völkermord/Genozid für das Verbrechen aller Verbrechen prägte, entwickelte im Anschluss auch den Begriff des »kulturellen Völkermordes«. Er formulierte dabei sehr klar, dass »die Zerstörung der Kultur der erste Schritt zur vollständigen Zerstörung einer Nation ist«. Genau das beabsichtigt Israel mit der gezielten Ermordung von Lehrern und Wissenschaftlern in Gaza und inzwischen auch schon in der Westbank.
Helga Baumgarten ist emeritierte Professorin für Politik der Universität Birzeit und schreibt an dieser Stelle wöchentlich ihre Kolumne »Brief aus Jerusalem«.
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