Klima der Angst
Von Jakob Reimann
Die Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit von Politik und Medien liefern den gewünschten Erfolg: Mechanismen der Selbstzensur an Universitäten wirken. Eine neue Studie der FU Berlin liefert erstmals systematische Evidenz für Einschränkungen unter Wissenschaftlern mit Nahostbezug an Forschungseinrichtungen seit dem 7. Oktober 2023 in Deutschland. In den vergangenen zwei Jahren nehmen knapp 85 Prozent der Befragten eine stark zunehmende Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit wahr. Die Studie ermittelt ein hohes Maß an Selbstzensur, wobei über drei Viertel der Befragten angaben, sich bei israelbezogenen Themen zurückzuhalten. Fast drei von fünf Forschenden überlegen es sich zweimal, was sie zur deutschen Politik gegenüber Israel/Palästina äußern. Dies betrifft am häufigsten Aussagen auf öffentlichen Veranstaltungen (81 Prozent), der Wert ist jedoch selbst im fachlichen Rahmen des eigenen Kollegiums oder Seminars mit 42 Prozent noch sehr hoch.
Prekäre Stellung
Nur jeder Zehnte gibt an, sich selbst überhaupt nicht zu zensieren. Viele der Befragten berichten in diesem Zusammenhang von Erfahrungen mit Rassismus- und Antisemitismusvorwürfen, Drohungen im Netz, Ausladungen von Veranstaltungen, Disziplinarmaßnahmen, Doxxing (das Veröffentlichen privater Daten), Entzug von Fördermitteln, medialer Diffamierung, Sachbeschädigung und Belästigungen bis hin zu physischer Gewalt. Die FU-Forschenden ordnen ein: »Diese Zahlen legen nahe, dass das Bedürfnis nach Selbstzensur oft nicht nur eine abstrakte Sorge ist, sondern mit konkreten oder beobachteten negativen Erfahrungen korreliert.«
Die Daten zeigen kein Randphänomen, heißt es in der Studie weiter, »sondern eine breit geteilte Erfahrung von Verunsicherung und Zurückhaltung im Umgang mit Israel/Palästina«. Besonders betroffen seien Nachwuchswissenschaftler sowie »Statusgruppen mit unsicheren Beschäftigungsbedingungen und hoher Drittmittelabhängigkeit«. Als Gründe für die eigene Zurückhaltung zu Themen Westasiens werden vor allem Angst vor Missverständnissen (63 Prozent), Sorge um öffentliche Anfeindung (61), berufliche Konsequenzen (60) und befürchtete negative Reaktionen von Kollegen oder Vorgesetzten (52) genannt. Sorge um den eigenen Ruf oder Verlust von Fördermitteln oder die Angst, Studierende oder Kollegen zu verletzen, werden ebenfalls angegeben. Erschreckend ist, dass mehr als einer von fünf Befragten (21 Prozent) die Angst vor körperlichen Angriffen als Grund für die Selbstzensur nennt.
Befragt wurden rund 2.000 Forschende von Hunderten Universitäten, Hochschulen sowie Thinktanks mit Arbeitsbezug zu Westasien. Bei Postdocs ist die Sorge um eine Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit mit über 90 Prozent am höchsten. Dies »könnte mit der prekären Phase ihrer Karriere zusammenhängen, in der sie stark von Reputation, Publikationen und Drittmitteln abhängig sind«, so die Studie. Die Autoren der FU machen einen Widerspruch innerhalb der sich als liberal gebenden deutschen Gesellschaft auf, wenn sie schreiben, es bestehe eine Diskrepanz zwischen »dem normativen Anspruch offener Debatten« einerseits und der »faktischen Erfahrung von Diskursverengung, Anfechtungen und Sanktionierung« andererseits. Trotz der eigenen Einschränkungen wird unabhängig von der politischen Ausrichtung der Befragten das Recht auf studentische Proteste betont; ebenso hohe Zustimmungswerte erhält die Bedeutung der Institution Hochschule als Hort der freien Meinung. Die Studie legt institutionelle Handlungsbedarfe offen und betont dabei die Notwendigkeit gezielter Schutzmechanismen für Nachwuchs, von Unterstützung bei Angriffen auf die Wissenschaftsfreiheit sowie »Garantien für akademische Rede- und Lehrfreiheit«.
Schere im Kopf
Die FU-Studie geht in dieselbe Richtung wie vergleichbare Forschungen aus den USA. So zeigen die jüngsten Ergebnisse des periodischen Middle East Scholar Barometer (MESB), dass mehr als vier von fünf der befragten US-Forschenden zum Thema Nahost angaben, sie hätten »das Gefühl, sich selbst zensieren zu müssen«, wenn sie sich beruflich zu Israel/Palästina äußern. Als Hauptgründe für diese Selbstzensur wurden hier der Druck äußerer Lobbygruppen genannt, gefolgt von der Besorgnis über die Campuskultur sowie der Disziplinierung durch die Universitätsverwaltung. Mehr als zwei von fünf der Befragten berichten von neuen institutionellen Restriktionen seit dem 7. Oktober, darunter Auflagen für Proteste oder Sprachregelungen.
Eine Mehrheit erwartet, dass sich diese Dynamik unter der aktuellen US-Regierung weiter verschärfen wird. Seit Beginn der zweiten Trump-Administration nahm die institutionelle Repression gegen freie Wissenschaft objektiv zu, was sich insbesondere in der Streichung finanzieller Förderung von Forschungseinrichtungen und der öffentlichen Diffamierung als »liberal« oder »links« bezeichneter Universitäten wie Harvard äußert. Die politisch-mediale Wahrnehmung, seit dem 7. Oktober grassiere Antisemitismus an US-Hochschulen, wird durch die MESB-Erhebungen in ein deutlich anderes Licht gerückt. So gaben 16 Prozent der Befragten an, dass antisemitische »Gesinnungen« in ihren Einrichtungen »stark« oder »etwas« verbreitet seien. Bei antimuslimischen Gesinnungen steigt dieser Wert dagegen auf 49, bei antipalästinensischen gar auf 59 Prozent. Auch das Vorhandensein antiisraelischer Gesinnungen wird mit 54 Prozent ähnlich hoch wahrgenommen, doch zeigt sich in der Kluft zwischen diesem und dem Antisemitismuswert, dass sehr wohl klar zwischen beiden unterschieden wird.
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