Nah auf Distanz halten
Von Roland Zschächner
Das Stadtbild, diesmal in London: Dort hat am Mittwoch der Gipfel des »Berlin-Prozesses« stattgefunden. Mit dabei war auch Bundeskanzler Friedrich Merz. Die nach der deutschen Hauptstadt benannte Abfolge von Treffen war 2014 ins Leben gerufen worden, um einen Widerspruch zu überdecken: Die Länder des sogenannten Westbalkans sollen zwar an die EU herangeführt werden, eine Mitgliedschaft wird ihnen auch immer wieder versprochen – doch aufgenommen werden sie nicht.
Der Vorsitz des »Berlin-Prozesses« wechselt, momentan hat ihn der britische Regierungschef Keir Starmer inne. Am Tisch in London hatte er seine Amtskollegen aus den Ländern des westlichen Balkans – Serbien, Bosnien und Herzegowina, Albanien, Nordmazedonien sowie Montenegro – versammelt. Zudem waren Albin Kurti aus Priština sowie neben Merz noch acht weitere Vertreter aus EU-Ländern in die englische Metropole gekommen. Diskutiert wurde über die Förderung der regionalen Zusammenarbeit und die Möglichkeiten, wie Sicherheit und Wachstum verbessert werden könnten.
Von den drei Themen ging es vor allem um eines, um Sicherheit. Diese nach vorn zu stellen ist ein politischer Reflex auf die tiefgreifenden ökonomischen Krisen und den damit verbundenen globalen Abstieg der westlichen Länder. Um die Bevölkerung zu beruhigen, wird versucht sie in Sicherheit zu wiegen. Etwa indem gegen reale oder vermeintliche Kriminelle hart vorgegangen wird, rassistische Gesetze erlassen oder verschärft werden. Dafür bieten sich unter anderem der Balkan und die dort lebenden Menschen an.
Die britische Regierung hat kein Interesse an einer EU-Mitgliedschaft der Balkanländer, sie spielen indes eine wichtige Rolle beim Thema Migration. Das wiederum dient nicht nur Labour-Chef Starmer dazu, soziale Fragen zu überdecken. In den vergangenen Jahren hätten Banden Hunderttausende Menschen über den »Westbalkan« in die EU geschmuggelt, heißt es von ihm. »Es gibt eine kriminelle Route durch den Westbalkan, über die illegale Migranten nach Großbritannien gebracht werden, und wir sind entschlossen, sie in Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern zu schließen«, so der Premierminister am Mittwoch.
Starmers Regierung vermeldete zudem Maßnahmen: »Bandenchefs, Passfälscher und illegale Finanziers, die den Menschenschmuggel durch den Westbalkan ermöglichen, wurden heute von Großbritannien mit Sanktionen belegt«, heißt es in einem Statement. Außerdem wird die Kooperation mit den Ländern des westlichen Balkans hervorgehoben. Sie sei äußerst erfolgreich, so Starmer, und habe »bereits zu einer Halbierung der illegalen Grenzübertritte und zu einem Rückgang der Ankünfte kleiner Boote aus Albanien um 95 Prozent geführt«.
Dabei setzen Großbritannien und die EU auf Militarisierung; das zeigt sich nicht zuletzt bei der Abwehr von Geflüchteten. So werden die scheinbaren Erfolge von annähernd hundert Prozent von Starmer hauptsächlich mit mehr Repression erklärt: »Mit einer neuen gemeinsamen Taskforce für Migration, britischen Drohnen und strengeren Sanktionen gehen wir in jeder Phase gegen die Schleuserbanden vor, um ihnen das Handwerk zu legen und den arbeitenden Menschen Sicherheit zu bieten.«
Der »Berlin-Prozess« dient aber nicht nur dazu, die Länder des ehemaligen Jugoslawiens sowie Albanien auf Distanz zu halten. Es geht auch darum, dass Brüssel und die im EU-Apparat dominierende Bundesrepublik ihren Einfluss sichern. Der deutsche Außenminister Johann Wadephul machte das vor einem Treffen mit seinen Amtskollegen Anfang Oktober in Belfast deutlich. In einem Statement unterstrich der CDU-Politiker die Rolle des »Berlin-Prozesses«. Dieser sei »der Katalysator im EU-Beitrittsprozess der Staaten des westlichen Balkans«. Eine solche Funktion sei »wichtiger denn je. Denn die Menschen beginnen, das Vertrauen auf eine baldige Zukunft in der EU zu verlieren. Das können wir uns nicht leisten, denn dann drohen ein Rückfall in alte Zeiten der Feindseligkeit und eine größere Rolle Russlands und Chinas.« Anders gesagt: Man muss den Balkan schon vor sich selbst und den Mächten aus dem Osten bewahren. Die Region ist schließlich noch immer Deutschlands Hinterhof.
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