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Aus: Migration, Beilage der jW vom 18.06.2025
Migration in Westafrika

Arbeitskraft auf Wanderschaft

Tausende Westafrikaner schlagen sich jedes Jahr nach Europa durch. Die Migration innerhalb der Region ist aber deutlich größer. Von Jörg Kronauer
Von Jörg Kronauer
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Nach Indien eingewanderte Arbeiter waschen sich in einer vermüllten Gasse an einem öffentlichen Wasserhahn (Delhi, 3.1.2025)

Wenn in Europa von Emigration aus den Ländern Westafrikas die Rede ist, dann geht es in aller Regel um eines von zwei Phänomenen. Das eine ist die Abwerbung von Arbeitskräften, die auf dem regulären Arbeitsmarkt der europäischen Staaten benötigt werden – Pflegekräfte zum Beispiel. In Großbritannien etwa ist die Zahl der Krankenpfleger, die ihren Beruf außerhalb des Landes und außerhalb der EU erlernt haben, von 2019 bis 2024 um über die Hälfte auf gut 174.000 gestiegen. Nicht wenige von ihnen wurden aus Westafrika geholt, aus Ghana zum Beispiel.

Nach Angaben des International Council of Nurses verlassen jeden Monat zwischen 400 und 500 Krankenpflegerinnen und -pfleger Ghana; und eines der Hauptziele ist Großbritannien. Das Vereinigte Königreich spart sich die Kosten für ihre Ausbildung; Ghana bezahlt sie, verliert jedoch dringend benötigtes Personal. Es verzeichnet heute 31 Krankenpfleger pro 10.000 Einwohner, Großbritannien 86 – und dies, nebenbei, während Großbritannien die Entwicklungshilfe dramatisch kürzt. Ähnlich geht es zahlreichen weiteren Ländern Westafrikas. Die massenhafte Abwerbung von Arbeitskräften bremst die Entwicklung und schädigt die Zukunftsperspektiven der Region.

Das zweite Phänomen betrifft Arbeitskräfte, die die Staaten Europas auf ihrem irregulären Arbeitsmarkt verschleißen – Arbeiter, die unter meist desolaten Bedingungen auf Baustellen, in Schlachthöfen, im Gastgewerbe arbeiten. Man muss sie nicht aktiv ins Land holen – sie kommen ganz von allein, weil in den zahlreichen Armutsregionen der Welt irgend jemand die Familie mit Erwerbsarbeit im reichen Europa ernähren muss, oder weil junge Menschen der Perspektivlosigkeit entfliehen wollen. Die Mehrzahl schlägt sich auf gefährlichen Wegen, durch Wüsten und über Meere, nach Europa durch und verdingt sich dort – sofern die Reise nicht in den Tod führt – zumeist für einen Hungerlohn ohne einen erträglichen Arbeitsvertrag. Auch von ihnen kommen einige aus Westafrika. Die Zahl der Guineer etwa, die im Boot auf die Kanarischen Inseln und damit in die EU einreisten, stieg – laut den Statistiken der EU-Grenzagentur Frontex – von mehr als 2.300 im Jahr 2023 auf fast 3.000 im Jahr 2024; die Zahl der Malier schnellte von 5.700 auf rund 13.500 in die Höhe, während einzig die Zahl der Senegalesen sank, von 18.000 auf 9.500. Der Grund: Dakar hat auf Druck der EU die Kontrollen verschärft.

Übersehen wird neben der regulären und der irregulären Arbeitsmigration aus Westafrika nach Europa gewöhnlich, dass es in der Region selbst eine deutlich größere Migration gibt – genauer: innerhalb der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS), eines Zusammenschlusses von Staaten, der heute noch zwölf Mitglieder hat, seit die drei französischsprachigen Sahelstaaten Mali, Burkina Faso und Niger ihn im politischen Streit verlassen haben.

Der ECOWAS gehören weiterhin die fünf französischsprachigen Länder Benin, Côte d’Ivoire (Elfenbeinküste), Guinea, Senegal, Togo, die fünf englischsprachigen Länder Gambia, Ghana, Liberia, Nigeria, Sierra Leone und die zwei portugiesischsprachigen Länder Kap Verde und Guinea-Bissau an. Die sprachliche Zuordnung ist wichtig, denn gleiche Sprachen erleichtern die Migration. Genaue Zahlen dazu sind kaum erhältlich, zumal in der ECOWAS Reisefreiheit herrscht. Mitte 2020 wurde die Anzahl der Migranten in Westafrika auf 7,6 Millionen geschätzt. Dem Migration Data Portal zufolge, das von der International Organization for Migration (IOM) unterhalten wird, beherbergte Ghana Mitte 2020 mindestens 480.000 Migranten, Nigeria mindestens 1,3 Millionen, Côte d’Ivoire 2,5 Millionen; letzteres waren fast zehn Prozent der ivorischen Bevölkerung.

Von den Migranten, die in ECOWAS-Staaten leben, waren der Staatenorganisation zufolge bereits im Jahr 2017 mehr als 3,7 Millionen erwerbstätig; inzwischen dürfte die Zahl gestiegen sein. Zum Teil halten sich die Arbeitsmigranten nur zeitweise in einem anderen ECOWAS-Land auf – so etwa zu Tätigkeiten in der Ernte –, zum Teil arbeiten sie dauerhaft dort. Es gibt verschiedene ökonomische Schwerpunkte: Arbeiter aus Burkina Faso ziehen häufig zur Kakaoernte und -verarbeitung nach Côte d’Ivoire; Malier arbeiten oft in der Fischerei oder in der zur Zeit wachsenden Textilindustrie im Senegal; Ghanaer wiederum migrieren immer wieder nach Nigeria, um dort in der Finanz- oder der Erdölbranche Arbeit zu finden, während Nigrer sich in Nigeria – auch wegen ihrer oft geringeren Ausbildung – häufig mit Arbeiten in der Baubranche und im informellen Kleinhandel begnügen müssen.

Die Rücküberweisungen, die die Arbeitsmigranten in ECOWAS-Staaten ihren Familien im Herkunftsland zukommen lassen, tragen ebenso zu dessen Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei wie die Rücküberweisungen von Arbeitsmigranten aus Europa oder Nordamerika. Laut ECOWAS-Angaben beläuft sich der Anteil aller Rücküberweisungen am BIP in Liberia auf 9,0 Prozent, in Guinea-Bissau auf 11 Prozent, in Kap Verde auf 18,2 Prozent sowie in Gambia auf 28,3 Prozent.

Auch in Westafrika sind Arbeitsmigranten dabei oft üblen Arbeits- und Lebensbedingungen ausgesetzt. Die ECOWAS befasst sich bereits seit einiger Zeit damit. In einem aktuellen Bericht hält sie dazu fest, Arbeitsmigranten seien nicht nur einem stark begrenzten Zugang zu den Sozial- und Gesundheitssystemen ausgesetzt, bei der Rente benachteiligt und zuweilen sogar des Zugangs zu Gewerkschaften beraubt. Oft seien sie von Erwerbslosigkeit bedroht, mit schlechteren Löhnen konfrontiert, sogar von Menschenhandel betroffen. Besondere Nachteile erleiden einem Bericht der International Labour Organization (ILO) zufolge Frauen. Ihr Risiko, zu Opfern von Menschenhandel zu werden, sei größer als das Risiko von Männern; sie hätten schlechteren Zugang zu angenehmeren und zu besser bezahlten Tätigkeiten, und sie seien darüber hinaus sexualisierter Gewalt und – deutlich stärker als Männer – Formen von Zwangsarbeit ausgesetzt.

Die ECOWAS hat nun eine Strategie entwickelt, um die Lage der Arbeitsmigranten zu verbessern, und sie hat diese Mitte Mai – in Kooperation nicht zuletzt mit der IOM und der ILO – validiert. Die Strategie hält fünf Ziele fest. So sollen die Sicherheit von Arbeitsmigranten und ihr Schutz während der Migration verbessert werden; ihre Rechte sollen besser gewahrt werden; die regionale Kooperation mit Blick auf Arbeitsmigration soll verstärkt, die Gleichstellung der Geschlechter stärker unterstützt werden.

Nicht zuletzt hofft die ECOWAS schließlich, durch die Arbeitsmigration auch die Entwicklung intensiver zu fördern. So heißt es etwa, die Rücküberweisungen von Arbeitsmigranten an ihre Familien könnten genutzt werden, um Verwandten Investitionen zu ermöglichen und auf diese Weise Arbeitsplätze und Wachstum zu schaffen. Arbeitsmigranten könnten Fähigkeiten erlernen, die sie später im Herkunftsland einsetzen könnten – ein Fall von potentiellem Brain Gain. »Die Strategie setzt einen neuen Standard für die regionale Kooperation«, lobte Adaeze Molokwu, die Leiterin des Joint Labour Migration Programme der Afrikanischen Union. Bleibt allerdings die Frage, ob die hehren Ziele tatsächlich umgesetzt werden.

Jörg Kronauer ist freier Journalist und regelmäßiger Autor der Tageszeitung junge Welt sowie des außenpolitischen Fachportals german-foreign-policy.com.

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