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Aus: Ausgabe vom 24.10.2025, Seite 4 / Inland
Merz und das »Stadtbild«

Als Arbeitskräfte willkommen

Kanzler reagiert auf Kritik an »Stadtbild«-Äußerung. Migranten seien wertvoll für den Arbeitsmarkt
Von Kristian Stemmler
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Teilnehmerin einer Protestkundgebung gegen Friedrich Merz in Berlin (21.10.2025)

Gut eine Woche lang hat Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) die Debatte über seine mehrdeutige Äußerung zu »Problemen im Stadtbild«, die mit der Migration zu tun hätten, laufen lassen. Am Mittwoch abend sah er sich angesichts der wachsenden Kritik auch aus eigenen Kreisen, vom Koalitionspartner SPD und durch Ökonomen schließlich genötigt, die Aussage zu konkretisieren. Am Rande eines »EU-Westbalkan-Gipfels« in London machte Merz vor allem klar, wen er nicht gemeint hatte: Migranten, die von Unternehmen in der BRD als – meist billige – Arbeitskräfte ausgebeutet werden. Die Devise heißt also: »Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen.«

Mit geradezu pathetischen Worten sprach Merz die rein nach ökonomischer Nützlichkeit bewertete Bedeutung von Menschen mit Migrationshintergrund für Staat und Kapital offen aus. Sie seien »unverzichtbarer Bestandteil unseres Arbeitsmarktes« und das »ganz gleich, wo sie herkommen, welcher Hautfarbe sie sind und ganz gleich, ob sie schon in erster, zweiter, dritter oder vierter Generation in Deutschland leben und arbeiten«. Für problematisch erklärte der CDU-Vorsitzende dagegen diejenigen, die in die BRD eingereist sind, aber »keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus haben, die nicht arbeiten, die sich auch nicht an unsere Regeln halten«.

Diese Menschen habe er mit seiner »Stadtbild«-Äußerung gemeint, denn: »Viele von diesen bestimmen auch das öffentliche Bild in unseren Städten.« Deshalb hätten viele andere Menschen in Deutschland und in anderen EU-Ländern »einfach Angst, sich im öffentlichen Raum zu bewegen«, behauptete Merz. Das betreffe Bahnhöfe, U-Bahnen, bestimmte Parkanlagen und ganze Stadtteile. Der Kanzler erklärte allerdings nicht, an welchen äußeren Merkmalen seiner Auffassung nach Menschen ohne Aufenthaltsrecht zu erkennen seien und was diese zum Beispiel von Asylbewerbern mit Duldungsstatus unterscheidet. Seine Konkretisierung änderte nichts am erkennbaren rassistischen Unterton der »Stadtbild«-Äußerung. Vermutlich stört sich Merz am offenen und wiederholten Schüren von derartigen Ressentiments deshalb so wenig, weil er dem erklärten »Hauptfeind« AfD die ein oder andere Stimme streitig machen will.

Vor der in London abgegebenen Erklärung des Kanzlers hatte sich dessen Vize Lars Klingbeil (SPD) in diesem Punkt klar von ihm distanziert. Klingbeil wolle »in einem Land leben, in dem Politik Brücken baut und Gesellschaft zusammenführt, statt mit Sprache zu spalten«, erklärte er auf dem Kongress der IG BAU in Hannover. In der BRD solle »nicht das Aussehen darüber entscheiden, ob man ins Stadtbild passt oder nicht«, sagte der Finanzminister. Kritisiert wurde Merz auch vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Seine Äußerungen verschärften »die gesellschaftliche Polarisierung und richten einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden an«, sagte DIW-Präsident Marcel Fratzscher dem Handelsblatt.

Für Protest sorgte in den vergangenen Tagen auch eine zweite Äußerung von Merz auf einer Pressekonferenz am Montag. Angesprochen auf sein »Stadtbild«-Zitat sagte er: »Fragen Sie mal Ihre Töchter«, und behauptete, Frauen fühlten sich in der Öffentlichkeit unsicher. Dagegen hatten mehr als 120.000 Menschen binnen 24 Stunden eine Petition mit dem Titel »Wir sind die Töchter« unterschrieben. »Wir sind die Töchter und lassen uns von Ihrem Rassismus nicht einspannen, Herr Merz! Sie sprechen nicht für uns«, erklärte die Initiatorin Cesy Leonard. Gewalt gegen Frauen geschehe »fast immer im eigenen Zuhause«, die Täter seien Ehemänner, Väter oder Expartner. Das sekundierte Heidi Reichinnek, Kovorsitzende der Fraktion Die Linke im Bundestag, gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Ginge es Merz um den Schutz von Frauen vor Gewalt, »müsste er die Finanzierung von Frauenhäusern und Beratungsstellen sichern und in Gewaltprävention investieren«, forderte Reichinnek.

Auf die Straße schafften es deutlich weniger Anhänger des vor allem von Bündnis 90/Die Grünen ausgehenden Aktivistenumfelds. Unter dem Motto »Wir sind die Töchter« hatte eine Demonstration am Dienstag abend vor der CDU-Parteizentrale in Berlin mit mehreren tausend Teilnehmern stattgefunden. Am Mittwoch folgten in Kiel 1.500 Menschen. In Köln war am Donnerstag eine weitere Demonstration geplant.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Manuel S. (24. Oktober 2025 um 08:50 Uhr)
    Die »Stadtbild«-Äußerung ist keineswegs »mehrdeutig« und trägt auch nicht bloß einen »Unterton«. Sie ist eindeutig rassistisch, ebenso wie die »Töchter«-Äußerung. Die Bemerkungen sind hochgradig rassistisch, ganz im Stil der AFD. Und es geht bei dieser Aufwiegelei auch keineswegs nur um Konkurrenz zwischen den Parteien.

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