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Aus: Ausgabe vom 18.10.2025, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Mit Blutströmen erkauft

Rosa Luxemburg: Das klassische Beispiel für Kolonialkriege überlegener Eroberer liefert die Geschichte Chinas
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Siegreiche britische Invasionstruppen in einem Fort bei Beitang während des zweiten Opiumkrieges 1860

Fünfzehn Jahre später erfolgte der zweite Krieg gegen China, wobei diesmal die Engländer gemeinsam mit Franzosen vorgingen, 1857 wurde Kanton durch die verbündete Flotte ebenso heldenhaft wie im ersten Kriege erstürmt. Im Frieden von Tientsin 1858 wurde der Opiumeinfuhr, dem europäischen Handel und den Missionen Zutritt ins Innere des Landes gewährt. Schon 1859 eröffneten die Engländer von neuem die Feindseligkeiten und beschlossen, die Befestigungen der Chinesen am Pei-ho zu zerstören, wurden aber nach einer mörderischen Schlacht mit 464 Toten und Verwundeten zurückgeschlagen. (…) Mit 12.600 Mann englischer und 7.500 französischer Truppen unter General Cousin-Montauban nahmen sie Ende August 1860 zunächst die Takuforts ohne einen Schuss, dann drangen sie bis Tientsin und weiter nach Peking vor. Unterwegs kam es am 21. September 1860 zu der blutigen Schlacht bei Palikao, die Peking den europäischen Mächten preisgab. Die Sieger, die in die fast menschenleere und gar nicht verteidigte Stadt einzogen, plünderten zunächst den kaiserlichen Palast, woran sich General Cousin, der spätere Marschall »Graf von Palikao«, mit Eifer persönlich beteiligte, Lord Elgin aber ließ den Palast »zur Sühne« in Flammen aufgehen.

Jetzt wurde den europäischen Mächten zugestanden, Gesandte in Peking zu halten, Tientsin und andere Städte wurden dem Handel eröffnet. (…) Gleichzeitig sicherten alle Staatsverträge mit China den Europäern – Kaufleuten wie Missionen – das Recht auf Landerwerb zu. Hierbei half neben dem Feuer der Geschütze auch bewusster Betrug kräftig mit. Nicht nur bot die Zweideutigkeit der Vertragstexte eine bequeme Handhabe zur stufenweisen Ausdehnung der vom europäischen Kapital in den Vertragshäfen besetzten Gebiete. Auf Grund der bekannten frechen Fälschung im chinesischen Text der französischen Zusatzkonvention vom Jahre 1860, den der katholische Missionar Abbé Delamarre als Dolmetscher ausgefertigt hatte, wurde der chinesischen Regierung in der Folge das Zugeständnis abgepresst, den Missionen nicht bloß in den Vertragshäfen, sondern in allen Provinzen des Reiches Landerwerb zu gestatten. (…)

Die Erschließung Chinas für den Warenhandel, die mit dem Opiumkriege begonnen war, wurde mit der Serie der »Pachtungen« und der China-Expedition des Jahres 1900 besiegelt, in der die Handelsinteressen des europäischen Kapitals offen in internationalen Landraub umschlugen. Fein kehrt diesen Widerspruch zwischen der anfänglichen Theorie und der schließlichen Praxis der europäischen »Kulturträger« in China die Depesche der Kaiserin-Witwe hervor, die nach der Einnahme der Takuforts an die Königin Victoria schrieb:

»Ew. Majestät einen Gruß! – In allen Verhandlungen Englands mit dem chinesischen Reiche, seit Beziehungen zwischen uns angeknüpft wurden, ist auf seiten Großbritanniens niemals die Rede von Vergrößerung des Landbesitzes gewesen, sondern nur von dem eifrigen Wunsch, die Interessen seines Handels zu fördern. Die Tatsache erwägend, dass unser Land nunmehr in einen entsetzlichen Kriegszustand gestürzt ist, erinnern wir uns daran, dass ein großer Teil von Chinas Handel, 70 oder 80 Prozent, mit England abgeschlossen wird. Außerdem sind Eure Seezölle die niedrigsten in der Welt und wenig Beschränkungen in Euren Seehäfen auf fremde Einfuhr gelegt. Aus diesen Gründen haben unsere freundlichen Beziehungen mit britischen Kaufleuten in unseren Vertragshäfen ununterbrochen während des letzten halben Jahrhunderts zu unserem wechselseitigen Vorteil bestanden. Aber ein plötzlicher Wechsel ist nun eingetreten, und ein allgemeiner Verdacht hat sich gegen uns erhoben. Wir möchten Euch daher bitten, zu überlegen, wenn durch eine gewisse Kombination der Umstände die Unabhängigkeit unseres Reiches verlorengehen sollte und die Mächte sich einigen, ihren längst gehegten Plan, sich unseres Gebietes zu bemächtigen, durchzuführen (…), so würde das Ergebnis unglücklich und verhängnisvoll auf Euren Handel wirken. (…)«

Zwischendurch laufen in jedem Kriege Plünderung und Diebstahl en gros der europäischen Kulturträger in den chinesischen Kaiserpalästen, öffentlichen Gebäuden, an altertümlichen Kulturdenkmälern, so gut im Jahre 1860, wo der Palast des Kaisers mit seinen märchenhaften Schätzen von Franzosen geplündert wurde, wie 1900, wo »alle Nationen« öffentliches und privates Gut um die Wette stahlen. Rauchende Trümmer größter und ältester Städte, Verfall der Ackerkultur auf großen Strecken platten Landes, unerträglicher Steuerdruck zur Erschwingung der Kriegskontributionen waren die Begleiter jedes europäischen Vorstoßes, Hand in Hand mit den Fortschritten des Warenhandels. Von den mehr als 40 chinesischen Treaty ports ist jeder mit Blutströmen, Gemetzel und Ruin erkauft worden.

Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. Berlin 1913. Hier zitiert nach: Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Band 5. Dietz-Verlag, Berlin 1974, Seiten 339–342

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