»Viele Opfer und Unterzeichner haben Angst, vor Gericht zu erscheinen«
Interview: Sara Meyer, Bogotá
Kolumbien befindet sich seit 2016 offiziell im Friedensprozess mit der ehemaligen Guerillaorganisation Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens – den Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia, kurz FARC. Obwohl das Abkommen wichtige Prinzipien festlegt, zeigen sich in den ländlichen Gebieten weiterhin große Herausforderungen durch illegale bewaffnete Gruppen. Herr Sánchez, wie setzen Sie diese Prinzipien in den Regionen um, in denen weiterhin illegale bewaffnete Gruppen aktiv sind und die Umsetzung des Friedensprozesses besonders schwierig machen?
Das Friedensabkommen mit den ehemaligen FARC legte fest, dass einige grundlegende Säulen berücksichtigt werden müssen, wie Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Garantien der Nichtwiederholung. Doch genau letzteres geschieht – Dissidenten und illegale Gruppen sind in Verbindung mit einer gewissen Untätigkeit des Staates dafür verantwortlich, dass solche Gewaltakte weiterhin stattfinden.
Unter diesen Umständen ist es ziemlich kompliziert, für den Frieden und die Gerechtigkeit zu arbeiten. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen, weil wir nicht in die Gebiete gehen können, in denen die Konflikthandlungen mit den FARC stattfanden, da diese Landesteile heute von sämtlichen illegalen Gruppen kontrolliert werden. Zum anderen, weil Personen, die vor der Sondergerichtsbarkeit für Frieden – der Jurisdicción Especial para la Paz, kurz JEP – erscheinen müssen, zum Teil ermordet werden.
Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens im Jahr 2016 wurden mehr als 400 Unterzeichner des Friedensabkommens getötet. Damit haben nicht nur diese Personen ihr Leben verloren, auch ihre Familien und Gemeinschaften werden dadurch beeinträchtigt. Und die JEP wird negativ beeinflusst, da diese Menschen nicht mehr ihren Beitrag zur Wahrheitsfindung leisten und den Friedensprozess unterstützen können.
Und schließlich sind auch die Opfer betroffen, die Gemeinden, namentlich: Im Fall fünf zum Beispiel, aber auch in den Fällen zwei, vier und zehn, haben wir akkreditierte Opfer aus indigenen und afrokolumbianischen Gemeinschaften, deren Recht auf Nichtwiederholung gefährdet ist, weil das, was sie für überwunden hielten, leider weiterhin geschieht.
Es ist also wirklich sehr schwierig. Das wirkt sich negativ auf unsere Arbeit aus, negativ auf die Gerechtigkeit, die die Arbeit der Sonderjustiz herbeiführen soll. Dennoch muss die JEP ihre Arbeit tun.
Deshalb sieht man, dass die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden in jeder Hinsicht aktiv ist. Erstens ist sie vor Ort präsent, soweit dies möglich ist. JEP-Büros sind in ganz Kolumbien verteilt, besonders nahe der damaligen Konfliktzonen. Zweitens arbeitet sie eng mit den Opfern zusammen. Drittens gibt sie eine umfassende Antwort durch Schutzmaßnahmen für die Unterzeichner des Friedensabkommens und auch für die Opfer in den verschiedenen Fällen. Konkret im Fall fünf geben wir den indigenen und afrokolumbianischen Opfern eine Antwort der Justiz, soweit es unsere Möglichkeiten erlauben.
Aber ich muss auch ehrlich sein: Es wäre wünschenswert, dass die Regierung als Exekutive wirklich die Führung übernehmen würde, um diese Gewalt in den Gebieten zu überwinden, weil das, was wir von der Übergangsjustiz aus tun können, leider sehr begrenzt ist. Wir setzen all unsere Energie ein, wir handeln als Richter innerhalb unserer Kompetenzen, aber letztlich trägt die nationale Regierung die Hauptverantwortung durch Investitionen in soziale Projekte, durch das Management der öffentlichen Ordnung und der Sicherheitskräfte.
Die Gewalt hat sich über die Jahrzehnte verändert. Um die heutige Situation besser einordnen zu können, interessiert uns ein Vergleich mit früheren Phasen des Konflikts. Im Falle von Regionen wie dem Cauca, das derzeit unter starker Gewalt und Angriffen leidet, und dem Catatumbo, wo es seit Jahresbeginn wieder zu deutlich mehr Gewaltakten kommt, schreiben internationale Medien vor der »Rückkehr« einer Gewaltwelle wie in den 1980er und 1990er Jahren. Wie schätzen Sie als Experte des Konflikts die aktuelle Situation ein, und welche Ähnlichkeiten oder Unterschiede sehen Sie im Vergleich zu diesen früheren Perioden in bezug auf die Auswirkungen auf die Bevölkerung und die staatlichen Reaktionen?
Historisch gesehen war die Guerillagewalt in Kolumbien in den 1980er Jahren noch relativ begrenzt. Damals konzentrierten sich die Gruppen auf bestimmte Aktivitäten, die den Konflikt nicht verschärften und nur eine geringe Intensität hatten. In den 1990er Jahren jedoch verursachten Guerillagruppen und narco-terroristische Organisationen erheblichen Schaden. So war zum Beispiel das Medellín-Kartell an zahlreichen Terrorakten beteiligt, um die Auslieferung seiner Mitglieder an die USA zu verhindern.
Heute unterscheiden sich die illegalen bewaffneten Gruppen deutlich. Sie sind stark in illegale Ökonomien wie Drogenhandel, illegalen Bergbau und Erpressungen eingebunden und verfolgen in erster Linie wirtschaftliche Interessen. Man könnte sie daher als Bandoleros bezeichnen: klar organisierte Gruppen, deren Hauptziel Profit ist.
Nun zum Fall fünf, an dem ich arbeite: Kürzlich hat die JEP Schutzmaßnahmen ergriffen, um das physische und kulturelle Aussterben indigener und afrokolumbianischer Gemeinschaften, insbesondere im Nord-Cauca und Süden des Valle del Cauca, zu verhindern. Wir sind für diese Schutzmaßnahmen zuständig, die auf Antrag der Opfer eingeführt wurden. Der Fall fünf umfasst die größte Zahl akkreditierter Opfer in der JEP – mehr als 180.000 – und ermöglicht eine breite Beteiligung von indigenen und afrokolumbianischen Gemeinschaften, Gemeinden, Räten und anderen lokalen Strukturen.

Auf Wunsch der Opfer haben wir ihre Anfragen zu Schutz und Sicherheit geprüft. Im September 2024 führten wir dazu eine Anhörung in Popayán, der Hauptstadt des Cauca, durch, um die Anliegen der Opfer direkt zu hören und gleichzeitig die Präsenz verschiedener staatlicher Stellen in diesem Gebiet zu gewährleisten. So wurde ein offener Dialog zwischen den Opfern und den Institutionen ermöglicht. Daraufhin analysierten wir die Anfragen und Antworten und erließen gerichtliche Anordnungen. Vor etwa drei bis vier Wochen forderten wir verschiedene staatliche Stellen auf, in der Region Cauca und im Süden des Valle del Cauca präsent zu sein. Durch die Arbeit der Direktion für Frieden soll eine institutionelle Präsenz gesichert werden, so dass das staatliche Angebot in diesen Gebieten breit umgesetzt werden kann.
Neben der Einschätzung der Gewalt ist es wichtig zu verstehen, wie solche Bedingungen die praktische Arbeit der JEP beeinflussen, insbesondere beim Schutz der Opfer und Unterzeichner des Friedensabkommens. Die JEP soll eigentlich Verbrechen aus der Vergangenheit aufklären, doch aktuelle Ereignisse im Land haben direkten Einfluss auf ihre Arbeit: So wurden beispielsweise im Juni Eilmaßnahmen erlassen, um indigene und afrokolumbianische Gemeinschaften in besonders betroffenen Konfliktgebieten zu schützen. Wie wirken sich solche aktuellen Gewaltereignisse konkret auf den täglichen Arbeitsablauf der JEP aus?
Wie ich bereits erwähnte, führt die anhaltende Gewalt dazu, dass Unterzeichner des Friedensabkommens oder Zeugen bedroht, getötet oder vertrieben werden. Im Catatumbo wurden bereits einige Unterzeichner ermordet, sie verschwanden oder mussten ihre Heimat verlassen. Die Sektion für Abwesenheitserkennung hat deshalb gerichtliche Maßnahmen ergriffen, um Leben und Sicherheit der Unterzeichner zu schützen.
In Cauca und im Süden des Valle del Cauca liegt der Fokus auf dem Schutz der Opfer des bewaffneten Konflikts – insbesondere indigener, afrokolumbianischer und bäuerlicher Gemeinschaften.
Die Situation bleibt äußerst schwierig, weil viele Opfer aus Angst um ihr Leben niemals vor Gericht erscheinen wollen. Das betrifft auch zahlreiche Führungspersonen im Fall fünf. Unterzeichner des Friedensabkommens fürchten, dass ihnen etwas zustößt, wenn sie vor der JEP erscheinen – einige wurden bereits während ihrer Beteiligung am Fall fünf getötet.
Es ist daher eine wirkliche Herausforderung, Gerechtigkeit in diesen Gebieten durchzusetzen, wo die Garantie der Nichtwiederholung verletzt wird und Opfer wie Unterzeichner mit ständiger Angst vor Repressalien leben.
Angesichts dieser Herausforderungen stellt sich die Frage, welche Verantwortung der Staat übernehmen muss, um Gerechtigkeit und Sicherheit in den betroffenen Gebieten zu gewährleisten. Welche Maßnahmen sollten ergriffen werden?
Jede Institution der öffentlichen Gewalt hat ihre jeweilige Aufgabe, doch die Hauptverantwortung liegt beim Nationalstaat. Er muss in den betroffenen Gebieten eine starke institutionelle Präsenz sicherstellen, koordinierte Antworten entwickeln und mit den Sicherheitskräften für Schutz und Ordnung sorgen.
Die JEP handelt innerhalb ihrer Kompetenzen und setzt gerichtliche Maßnahmen um, doch die größte Verantwortung für Sicherheit, Stabilität und die Förderung von Gerechtigkeit trägt das Exekutivorgan. Nur durch eine verstärkte Präsenz und gezielte Maßnahmen des Staates kann die Arbeit der JEP effektiv unterstützt und die Umsetzung des Friedensabkommens in diesen Regionen realistisch gewährleistet werden.
Zum Abschluss: Was möchten Sie den Menschen in den betroffenen Gemeinden, den Unterzeichnern des Friedensabkommens und der kolumbianischen Gesellschaft sagen – welchen Eindruck oder welche Botschaft sollen sie aus Ihrer Arbeit bei der JEP mitnehmen?
Zunächst möchte ich den Gemeinden, den Unterzeichnern des Friedensabkommens und den Opfern sagen, dass die JEP stets aufmerksam ist, zuhört und ihre Bedürfnisse ernst nimmt. Die JEP übernimmt eine zentrale Rolle, indem sie transitorische Gerechtigkeit praktiziert und dabei Opfer, Gemeinschaften und Unterzeichner aktiv einbezieht. Unser Engagement für Frieden und Gerechtigkeit ist unermüdlich. Wir setzen uns dafür ein, dass sich Gewalt nicht wiederholt und alle Beteiligten grundlegende Schutzgarantien erhalten. Durch gerichtliche Anordnungen und Entscheidungen arbeiten wir kontinuierlich daran, eine konkrete Antwort für die Betroffenen sowie für die gesamte kolumbianische Gesellschaft zu liefern.
Raúl Eduardo Sánchez Sánchez ist Richter der Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP) in Kolumbien. Seit mehr als 20 Jahren unterrichtet, verhandelt und organisiert er Justizangelegenheiten, wobei sein Fokus auf Menschenrechten, Friedens- und Übergangsjustiz sowie Konfliktrecht liegt.
Er leitet bei der JEP den Fall fünf, der sich auf schwere Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen im Westen Kolumbiens in den Regionen Nord-Cauca und Süd-Valle del Cauca konzentriert, begangen von FARC-Mitgliedern zwischen 1993 und 2016.
Sánchez hat zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht. Dazu zählen »¿Es posible otorgar amnistía o perdón a las FARC a la luz de la CPI?« (Ist es möglich, den FARC Amnestie oder Vergebung im Lichte des Internationalen Strafgerichtshofs zu gewähren? 2012), »¿Hay o no conflicto armado en Colombia?« (Gibt es einen bewaffneten Konflikt in Kolumbien oder nicht? 2011) und »Delitos de Lesa Humanidad« (Verbrechen gegen die Menschheit), das vom Obersten Gerichtshof von Peru in der Verurteilung des ehemaligen Präsidenten Alberto Fujimori zitiert wurde. (sm)
Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP)
Neun Jahre nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens sind im September erstmals Führungskader der ehemaligen Guerilla Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (FARC) vor der Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP) verurteilt worden. Sie müssen jeweils acht Jahre Einschränkung ihrer Freiheit und Mobilität hinnehmen – die maximale Strafe, die die JEP bei Anerkennung der Verantwortung verhängen kann. Unter den Verurteilten ist der ehemalige Guerillachef Rodrigo Londoño alias Timochenko. Die JEP sah es als erwiesen an, dass die sieben Angeklagten während des jahrzehntelangen Konflikts insgesamt 21.396 Entführungen zu verantworten hatten.
Die Strafe ist Teil eines umfassenden restaurativen Ansatzes: In diesen acht Jahren müssen die Verurteilten Aufgaben zur Wiedergutmachung erfüllen, darunter Minenräumung, Suche nach vermissten Personen, symbolische und erinnerungskulturelle Projekte sowie Umwelt- und landwirtschaftliche Arbeiten. Anders als in der gewöhnlichen Justiz steht nicht die Inhaftierung im Vordergrund, sondern die Wiederherstellung des sozialen Geflechts und des Vertrauens in der Gesellschaft, das durch Jahrzehnte des Bürgerkriegs zerbrochen wurde. Gerechtigkeit soll hier vor allem durch Wiedergutmachung, Reue und gesellschaftliche Beteiligung entstehen – nicht durch reine Strafe.
Die JEP wurde 2016 im Rahmen des Friedensabkommens eingerichtet, ihre Wirkungsdauer ist auf maximal 20 Jahre begrenzt. Sie soll die schwersten Verbrechen des Konflikts aufarbeiten, darunter Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen durch FARC, Staat und paramilitärische Gruppen. Wer vollumfänglich Reue zeigt, Wahrheit offenlegt und zur Wiedergutmachung beiträgt, kann von reduzierten Sanktionen profitieren; wer dies verweigert, riskiert bis zu 40 Jahre Haft im regulären Strafvollzug.
Die Arbeit der JEP ist zugleich modern und öffentlich: Liveübertragungen von Anhörungen, Podcasts zu den Fällen und Social-Media-Kommunikation sollen Transparenz und Beteiligung der Bevölkerung garantieren. Gleichzeitig bleiben Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des Friedensabkommens, Zeugen und Opfer bedroht, ermordet oder vertrieben. Ohne staatliche Präsenz in den Konfliktregionen – etwa im Cauca oder Catatumbo – ist die Umsetzung von Gerechtigkeit schwierig.
Trotz dieser Herausforderungen bleibt die JEP ein zentraler Pfeiler des Friedensprozesses: Sie gibt den Opfern eine Stimme, schützt Unterzeichnerinnen und Unterzeichner, versucht Vertrauen und soziale Ordnung wiederherzustellen und Recht in staatlich schwachen Regionen zu gewährleisten. Die Verantwortung, Gewalt zu bekämpfen und soziale Stabilität herzustellen, liegt jedoch weiterhin beim Staat. (sm)
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