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Aus: Ausgabe vom 16.10.2025, Seite 4 / Inland
Wehrpflichtdebatte

Scheinkampf um den Wehrdienst

Koalition weiter uneins bei Wehrpflicht. Pistorius will an flächendeckender Erfassung festhalten. Berichte über Streit in der SPD-Fraktion
Von Philip Tassev
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Auch auf der Computerspielemesse »Gamescom« wirbt die Bundeswehr regelmäßig um neue Rekruten (Köln, 21.8.2025)

Das hat sich Boris Pistorius sicherlich anders vorgestellt. Ausgerechnet sein »Wehrdienstmodernisierungsgesetz« ist zu dem aktuellen Streitthema der Regierungskoalition geworden. Eine geplante gemeinsame Pressekonferenz dazu war am Dienstag abend überraschend abgesagt worden. Aber auch innerhalb der SPD soll es zu Krach gekommen sein: Verteidigungsminister Pistorius soll Bild zufolge bei der Fraktionssitzung am Dienstag nachmittag einen »Wutanfall« gehabt haben, gerichtet gegen die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Siemtje Möller.

Die hatte zuvor mit der Union ein Losverfahren für die Musterung ausgehandelt. Aufbauend auf dem Fragebogenmodell von Pistorius sieht es vor, junge Männer per Los zur Musterung einzubestellen, wenn sich nicht genug Freiwillige melden. Der Eintritt in die Streitkräfte soll aber freiwillig bleiben. Der Verteidigungsminister will alle Männer eines Jahrgangs mustern lassen. Sein Gesetzentwurf sieht vor, ab 1. Juli 2027 jährlich rund 300.000 junge Männer zu erfassen, um »im Ernstfall« zu wissen, wen er in den Krieg schicken kann.

Am Mittwoch bemühte sich Pistorius dann um Schadensbegrenzung: Ja, er habe bei der Fraktionssitzung am Dienstag »erhebliche Bedenken« geäußert, sagte er nach einer Sitzung des Verteidigungsausschusses. Und »ja, ich habe von einem faulen Kompromiss gesprochen«. Das sei aber »alles weit weniger dramatisch, als es gerade gemacht wird«. Es sei bei inhaltlichen Auseinandersetzungen oder Verfahrensfragen »doch völlig normal«, wenn es »mal rumpelt«. Der Streit um das Dienstmodell habe keine Auswirkungen auf den Zeitplan und »die Stimmung« in der Koalition. Das »gute Arbeitsklima« in der Regierung bestehe weiter und auch das Ziel, »dass das Gesetz zum 1. Januar in Kraft tritt«, bleibe. »Von daher ist bislang überhaupt kein Schaden eingetreten.« Man habe lediglich eine Woche Zeit verloren und werde jetzt »ganz normal« das Gesetz beraten. Ursprünglich sollte der Gesetzentwurf vergangene Woche im Bundestag beraten werden, der Tagesordnungspunkt wurde dann aber auf diesen Donnerstag verschoben.

Daran will die Koalition bislang festhalten. »Wir wollen unbedingt in dieser Woche in die erste Lesung«, sagte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann in der ZDF-Sendung »Markus Lanz«. Auch Unionsfraktionschef Jens Spahn bestätigte das am Mittwoch gegenüber dpa. »Wir werden den Entwurf diese Woche im Deutschen Bundestag einbringen und weiter verhandeln.«

Dabei bestehen in dieser Frage zwischen SPD und Union gar keine prinzipiellen Unterschiede. Beide wollen die Bundeswehr im großen Stil aufrüsten und personell aufstocken und stellen dafür gemeinsam in den nächsten Jahren Hunderte Milliarden Euro bereit. Nur bei der Frage nach dem Weg zum Aufbau der »stärksten Armee Europas« gibt es Unstimmigkeiten. Das Wehrdienstmodell, das der Verteidigungsminister im Sommer vorgestellt hatte, sieht vor, es erst einmal mit Freiwilligen zu versuchen – einerseits aus Rücksicht auf die öffentliche Meinung, insbesondere in der Jugend, andererseits aus ganz einfachen materiellen Gründen. Sowohl Pistorius als auch der Generalinspekteur der Bundeswehr haben mehrfach darauf hingewiesen, dass für eine flächendeckende Wiedereinführung der Dienstpflicht die Kasernen und Ausbilder fehlen, zudem die zur Wehrerfassung nötige Infrastruktur nicht mehr vorhanden ist und erst wieder aufgebaut werden muss.

Politiker von CDU und CSU haben in der Vergangenheit auf eine raschere Rückkehr zur Wehrpflicht gedrängt und auch ein »gesellschaftliches Pflichtjahr« für Männer und Frauen ins Gespräch gebracht. Aber offenbar hat inzwischen selbst CSU-Chef Markus Söder begriffen, dass die Bundeswehr in ihrem jetzigen Zustand gar nicht in der Lage ist, Hunderttausende von Rekruten zu absorbieren. »Ich glaube, dass es wichtig ist, mit Freiwilligkeit zu beginnen, aber irgendwann braucht es auch Pflichtelemente, vielleicht weniger durch Losverfahren, vielleicht durch andere Entwicklungen«, sagte er am Mittwoch beim Besuch einer Kaserne bei Nürnberg.

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