Schreie in der Nacht
Von Philip Tassev
Es sind erschütternde Erfahrungen, von denen die beiden Aktivistinnen Sofia Willer und Anna Liedtke am Dienstag in Berlin berichteten. Die zwei jungen Frauen waren Teil der »Freedom Flotilla Coalition«, der zweiten Welle von Schiffen, die Ende September ausgelaufen war, um über das Mittelmeer nach Gaza durchzudringen. Die Flottille hatte Lebensmittel, Medikamente und weitere humanitäre Hilfsgüter geladen, um sie in den seit fast 20 Jahren von der israelischen Marine blockierten Küstenstreifen zu bringen. In der Nacht vom 7. auf den 8. Oktober wurden die »Conscience« – das Schiff, auf dem auch die beiden Aktivistinnen mitreisten – sowie die Boote der »Thousand Madleens to Gaza« etwa 400 Kilometer vor der Küste Palästinas von israelischen Kriegsschiffen abgefangen.
Während sich israelische Spezialkräfte von Hubschraubern abseilten, enterten weitere Soldaten die Hilfsschiffe von Schlauchbooten aus. Wie schon kurz zuvor bei der »Gaza Sumud Flotilla« wurde die Besatzung mit vorgehaltener Waffe auf der Brücke zusammengepfercht, Soldaten übernahmen das Steuer und setzten Kurs auf die Hafenstadt Aschdod, etwa 35 Kilometer nördlich des Gazastreifens. Die ganze Fahrt über – gut 12 Stunden lang – untersagten es die israelischen Entführer den Aktivisten, miteinander zu sprechen. Zuvor identifizierten die Soldaten unter den Besatzungsmitgliedern einige »Problemfälle«, die von den anderen Gefangenen isoliert und anschließend besonders schikaniert wurden – etwa mit wiederholten Körperdurchsuchungen. Willer erklärte, dass insbesondere Personen des öffentlichen Lebens so misshandelt wurden, dass die israelischen Soldaten dabei aber offensichtlich auch nach rassistischen Kriterien handelten.
Nach der Ankunft in Aschdod wurden die Verschleppten weiter in das berüchtigte Gefangenenlager von Ketziot in der Negev-Wüste überführt. Die Zustände in diesem Lager – eines der größten dieser Art weltweit – können laut einem Bericht der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem aus dem Jahre 2024 nur als Folter bezeichnet werden: willkürliche Gewalt, sexuelle Übergriffe, Demütigung, Hunger, Dreck und Ungeziefer, Schlafentzug, Verbot von Gottesdiensten, Beschlagnahme aller gemeinschaftlichen und persönlichen Gegenstände, Verweigerung von angemessener medizinischer Versorgung. Dabei befindet sich rund die Hälfte der palästinensischen Gefangenen in israelischen Knästen in sogenannter Administrativhaft – ohne Anklage und ohne Aussicht auf ein Gerichtsverfahren.
Bei aller Misshandlung, die sie erlebten, sei ihnen bewusst gewesen, sagte Liedtke, dass sie als europäische Gefangene dort nur »die Spitze des Eisberges« gesehen haben. So hätten sie keinen einzigen palästinensischen Inhaftierten zu Gesicht bekommen – lediglich arabische Parolen an den Wänden sowie nächtliches Hundegebell und Schreie zeugten davon, dass dort Hunderte von Menschen unter schlimmsten Bedingungen gehalten werden. Auf einer Wand sei ein großes Bild der Trümmerlandschaft, die einmal Gaza-Stadt gewesen war, angebracht gewesen, darunter in arabischer Schrift: »Das neue Gaza«.
Vertreter der deutschen Botschaft ließen sich in dem Gefängnis zwar blicken, trugen den Aktivistinnen zufolge dabei Anstecker mit der israelischen Flagge am Revers und hatten außer »mitleidigen Blicken« nicht viel übrig für die Gefangenen. Nach drei Nächten wurden die Entführten schließlich entlassen und umgehend abgeschoben.
Dennoch, so betonte es Liedtke abschließend, sei keines der inhaftierten Besatzungsmitglieder durch die Misshandlungen davon abgeschreckt worden, weiter für ein freies Palästina zu kämpfen: »Niemand ist gebrochen worden.«
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