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Aus: Ausgabe vom 14.10.2025, Seite 10 / Feuilleton
Kino

Eine Art Karikatur

Radu Judes neuer Film »Kontinental ’25« auf den Spuren von Rossellinis »Europa ’51«
Von Wolfgang Nierlin
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Schöne Seele im Dinopark: Eszter Tompa

Ein sichtlich zerzauster, etwas getrieben und verwirrt wirkender Mann streift durch einen lichten Wald und sammelt in großen Tüten Flaschen- und Plastikmüll ein. Als er im angrenzenden Dinopark eine kurze Rast einlegt, fauchen die animierten urzeitlichen Tiere ziemlich bedrohlich. Prähistorische Phantasie und eine widersprüchliche Gegenwart treffen im Zeichen der Kommerzialisierung aufeinander und formieren sich zu einem bizarren, fast surrealen Bild. In Radu Judes neuem Film »Kontinental ’25«, der in Cluj-Napoca, dem siebenbürgischen Klausenburg, der zweitgrößten Stadt Rumäniens, spielt, sind die vom neoliberalen Kapitalismus verursachten Widersprüche allgegenwärtig. Das spiegelt sich nicht nur in der heterogenen Architektur alter und neuer Baustile, ablesbar am Kontrast zwischen traditionellen Repräsentationsbauten, funktionalen Mietskasernen aus sozialistischer Zeit und seelenlosen Reihenhäusern, die im aktuellen Wirtschaftsboom förmlich aus dem Boden gestampft werden, sondern auch in der zunehmenden Differenz zwischen neuem Wohlstand und zunehmender Armut.

Der 62jährige Ion Glanetaşu (Gabriel Spahiu), ehemals ein bekannter Leichtathlet, ist nämlich praktisch obdachlos. Er lebt vom Müll der anderen und erbettelt sich in schicken Straßencafés Almosen für einen Imbiss und für Alkohol. Unterschlupf hat er in einem Heizungskeller gefunden, wo er beengt zwischen Gerümpel haust und vorübergehend geduldet wird. Doch dann muss ihm die Gerichtsvollzieherin Orsolya Ionesco (Eszter Tompa) das Bleiberecht entziehen, weil ein Investor an dieser Stelle der Stadt ein Luxushotel bauen will. Der so Drangsalierte bringt sich am Tag der Zwangsräumung um, was bei der dadurch traumatisierten Orsolya heftige Schuldgefühle auslöst. Das moralische Dilemma der Juristin mit ungarischen Wurzeln wird noch verstärkt, als in den sozialen Medien eine rassistische wie sexistische Hetze gegen sie entfacht wird (nach dem Motto: Angehörige der ungarischen Minderheit treibt rumänischen Champion in den Tod). In dieser seelischen Notlage sucht sie Rat bei ihrer Freundin Dorina (Oana Mardare), die sich in einer NGO zur Unterstützung von Romafamilien engagiert, aber in ihrer Nachbarschaft keinen Obdachlosen toleriert. Oder bei ihrer ungarisch-nationalistischen Mutter (Annamária Biluska), die die Rumänen generell als unzivilisierte analphabetische Bauern beschimpft. Außerdem verbringt sie eine durchsoffene Nacht mit einem ihrer ehemaligen Studenten (Adonis Tanța) und vertraut sich einem überaus pragmatischen Priester (Șerban Pavlu) an.

Nach einem radikalen Perspektivwechsel konzentriert sich Radu Jude mit seiner für ihn typisch tragikomischen Art und Weise auf die Gespräche seiner Heldin, die, ähnlich wie die von Ingrid Bergman gespielte Figur in Roberto Rossellini »Europa ’51«, nach Erlösung sucht, aber in »Kontinental ’25« nur auf Widersprüche, unbeantwortbare Fragen und absurde Ungleichzeitigkeiten stößt. Mit dokumentarischer Genauigkeit, beredten parodistischen Bildern und teils provozierender Direktheit zeigt Radu Jude die soziale Ungleichheit in einer Gesellschaft bizarrer Kontraste.

In seiner mit einem I-Phone gedrehten Low-Budget-Produktion vereint der Regisseur künstlerische Relevanz und schwarzen Humor mit politischer Dringlichkeit. Außerdem lässt er in vielen Szenen neben seinem kritischen Blick auf die Gegenwart auch sein Interesse für die verworrene politische Geschichte seines Heimatlandes durchblicken. Seine Protagonistin ist eine Gefangene des Systems, die sich trotz guter Absichten in Schuld verstrickt. Am Schluss ist es der Priester, der sich, um sie zu trösten, ausgerechnet auf Martin Luther beruft: »Vergeblich glauben wir an die Vergebung, wenn wir nicht fest daran glauben, dass unsere Sünden vergeben worden sind.«

»Kontinental ’25«, Regie: Radu Jude, Rumänien/Schweiz/UK u. a., 109 Min., bereits angelaufen

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