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Aus: Ausgabe vom 14.10.2025, Seite 11 / Feuilleton
Oper

Aufbruch ins Ungewisse

Es geht unterhaltsam zu: Detlev Glanerts Märchenoper »Die drei Rätsel« an der Deutschen Oper Berlin
Von Kai Köhler
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Märchen sind nicht selten brutal

»Oper in zwei Akten für Kinder und Erwachsene«: So lautet die Gattungsbezeichnung für »Die drei Rätsel«. Nun ist Kunst für Kinder immer auch Kunst für Erwachsene, schon weil die das Geld haben, um Bücher oder Eintrittskarten zu kaufen. Der Anspruch des Komponisten Detlev Glanert aber reicht in zweierlei Hinsicht darüber hinaus. Er komponiert ein Stück Musiktheater, das Kindern wie Erwachsenen etwas zu hören und zu sehen gibt. Und er dachte an die Aufführenden. »Die drei Rätsel« ist nicht nur eine Oper unter anderem für Kinder, sondern verlangt auch die Mitwirkung von Kindern. Teile des Orchesterparts sind für Laien von verschiedenen Graden des Könnens gesetzt, und die beiden – durchaus anspruchsvollen – Hauptpartien sind Rollen für Kinder.

Dass drei Rätsel zu lösen sind, ist ein häufiges Märchenmotiv. Auch in die Oper ist es eingegangen. Es findet sich etwa in Richard Wagners »Siegfried« und steht an zentraler Stelle in Giacomo Puccinis »Turandot«. Wer dort die Prinzessin heiraten möchte, setzt seinen Kopf und muss drei Fragen beantworten, die die Titelheldin stellt. Nicht minder beschäftigt sind die Henker bei Glanert, doch sind hier die Rollen vertauscht: Der Bewerber stellt die Fragen, die Prinzessin Scharada weiß zu antworten – jedenfalls bis Lasso, die Hauptfigur der Oper, auftritt.

Märchen sind nicht selten brutal. Wenn Lasso aufbricht, gibt ihm die zornige Mutter einen vergifteten Kuchen mit. Den aber frisst ihm im Mörderwald ein gieriges Wildschwein weg, das daran krepiert. Den hungrigen Mördern entgeht Lasso gleich danach, weil die sich zunächst über das Wildschwein hermachen und sich dadurch ebenfalls vergiften. Und seinen Gefährten Galgenvogel gewinnt Lasso, weil der ihm vor die Füße fällt. Galgenvogel wollte sich aufhängen, doch der Strick war mangelhaft.

Es geht also unterhaltsam zu, und die Stationen der Handlung folgen Schlag auf Schlag. In Oper, Konzert und Theater kann man erleben, dass Kinder ein gutes Testpublikum sind. Sie sind begeisterungsbereit, werden aber unruhig, sobald Werk oder Aufführung dramaturgisch hängen. Ihnen ist noch nicht beigebracht worden, dass ein Kennzeichen besonders anspruchsvoller Kunst die Langeweile sei und folglich die Ursache in ihnen selbst liege. In der Premierenaufführung der »Drei Rätsel« an der Deutschen Oper am 11. Oktober saßen zahlreiche Kinder verschiedener Altersstufen, und nach kurzer Unruhe in den ersten Minuten hörten und sahen sie fasziniert zu. Allein dies spricht für die Qualität des Werkes.

Die Musiksprache der Oper von 2003 ist einfacher als die der neuesten Musiktheaterwerke von Glanert: »Oceane«, 2019 an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt, und »Die Jüdin von Toledo«, 2024 in Dresden. Es gibt eine klare Gliederung in einzelne Nummern, und ganz beiläufig, und keineswegs didaktisch überbetont, führen »Die drei Rätsel« in die Formwelt der Operngeschichte ein. Ebenso gibt es erkennbare Melodien und eine deutliche rhythmische Gliederung.

Wird das trivial? Die Oper endet gut. Lasso und Scharade finden zueinander. Nicht nur besiegt Lasso die Prinzessin auf der Ebene der Rätsel – er gibt ihr Gelegenheit, Zuneigung zu entwickeln. Das Ende sprengt die Märchenkonvention. Die beiden haben den Mut, nicht als neues Monarchenpaar (und wenn sie nicht gestorben sind …) zu regieren, sondern den korrupten Hof hinter sich zu lassen und ins Ungewisse aufzubrechen. Man soll, bemerkte Peter Hacks einmal, Kindern nicht zu früh die Illusionen nehmen.

Musikalisch geraten die letzten Minuten deshalb etwas harmlos. Alles andere zuvor aber stellt durchaus Ansprüche. Im Programmheft zitiert Glanert als Motto seiner Arbeit für Kinder Alban Berg: »Man muss wissen, wie weit man zu weit geht.« Das heißt, gezielt dosierte Überforderung, damit alle ein wenig besser werden. Glanert schreibt Ensemble­szenen, die in mehreren Schichten ablaufen und von allen Ausführenden ein hohes Maß an Konzentration verlangen. Zugleich sind sie fürs Publikum unmittelbar nachvollziehbar. Auch findet er für Chor und für Solisten Melodien, die als solche erkennbar und zugleich alles andere als gewöhnlich sind. Glanert scheut sich nicht vor Musik, die auch ein ans 19. Jahrhundert gewöhnter Hörer als schön empfinden kann, jedoch ohne im kompositorischen Anspruch nachzulassen.

Geht das mit Kindern? Dirigent Dominic Limburg hielt die Instrumentalisten verschiedener Niveaus gut zusammen, der Kinderchor und der Junge Chor der Deutschen Oper bewältigten ihre umfangreichen Parts überzeugend. Aus arbeitsrechtlichen Gründen sind die von Kindern gesungenen Hauptrollen mehrfach besetzt. In der Premiere bewältigten Emil Vandersee als Lasso und Milla Luisa Dell’Anna als Prinzessin Scharada nicht nur ihre harmonisch sehr freien Parts, sondern zeigten auch szenisch eine professionelle Präsenz.

Die Inszenierung von Brigitte Dethier ist angemessen prachtvoll. Vom Licht und Bühnenbild bis zu den Kostümen. Kinder können einmal erfahren, was Oper auch ist, nämlich ein sinnlich-emotionales Erleben auf vielerlei Ebenen. Hoffentlich bleibt das Werk, über die geplanten Aufführungen im Oktober und Februar hinaus, lange im Repertoire der Deutschen Oper – nicht zuletzt auch für Erwachsene.

Nächste Aufführungen: 17.10., 19.10.

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