Gleich und doch verschieden
Von Andrea Monrás Zöller
Ich beginne während einer meiner Rückreisen aus Äthiopien zu schreiben. Das Land hat mir beigebracht zu verstehen, dass derselbe Himmel mehr als eine Welt bedecken kann, und dieser Gedanke erfüllt mich gleichzeitig mit Schönheit und lässt mich vor Panik zittern.
Eines Nachts in meinem Zimmer in Addis Abeba schaue ich zum Himmel hinauf. Mein halber Körper lehnt aus dem Fenster, die Luft ist mild im Vergleich zu der, die mich vor ein paar Tagen umgab, fast sechstausend Kilometer von hier entfernt. Im Glauben, die beiden Welten miteinander versöhnen zu können, entspanne ich mich und suche Zuflucht in mir selbst. Oder ich versuche es zumindest. Ich weiß es noch nicht, aber in diesem Moment habe ich eine Panikattacke, die sich genau wie die Symptome einer Hypoglykämie anfühlt. Ein Abfall meines Blutzuckerspiegels – ohne Vorwarnung: Eine Sekunde zuvor schien noch alles in Ordnung zu sein, und im nächsten Moment fühle ich mich, als würde ich gleich ohnmächtig werden.
Mit kaum noch fokussierbaren Augen und zitternden Händen teste ich meinen Blutzucker. Der Wert liegt bei 94 Milligramm pro Deziliter. Ich wiederhole den Test einen Moment später, um sicherzugehen, dass es sich nicht um einen Fehler handelt, und erhalte einen Wert von 102 Milligramm pro Deziliter. Mein Blutzucker ist in Ordnung, ich habe keine Hypoglykämie, obwohl alle Symptome darauf hindeuten. Dann, in einem Moment der Klarheit inmitten von tausend Alarmsignalen, sage ich mir, dass der Verstand einem Streiche spielen kann, wenn er nicht in der Lage ist, soviel Ungerechtigkeit und Hilflosigkeit, soviel Schönheit zu verarbeiten. Die Ängste, mit Typ 1-Diabetes (T1D) zu leben, verschmelzen mit anderen Ängsten.
Ohne Insulin kein Leben
Am letzten Tag vor meiner Abreise aus Addis Abeba bin ich mit Ketsela zusammen, die ich gerade erst kennengelernt habe. Wir teilen die Zahlen, die unser Leben bestimmen, gemeinschaftliches Lachen, Resignation und Stärke. Inspiration. Ich schäme mich, ihr meine Gadgets zu zeigen, zu denen nur reiche Menschen Zugang haben. Ketsela, die seit dreißig Jahren mit T1D lebt, arbeitet als Krankenschwester und Sekretärin bei der Ethiopian Diabetes Association. Frehiwot, die Geschäftsführerin der Vereinigung, erzählt mir, dass eine der Herausforderungen, denen Menschen mit Diabetes in Äthiopien gegenüberstehen, das mangelnde Bewusstsein ist, nicht nur seitens der Betroffenen und ihrer Familien, sondern auch seitens des Gesundheitspersonals. »Nicht übertragbare Krankheiten wie Diabetes galten bis vor kurzem als Krankheiten der Reichen«, sagt Frehiwot. Der Mangel an Informationen über Diabetes, die fehlende Infrastruktur und Ressourcen, der schwierige Zugang zu Gesundheitseinrichtungen, gepaart mit einer Unterdiagnostizierung, und vor allem die hohen Verkaufspreise der großen Pharmaunternehmen – all das hat zur falschen Einordnung der Krankheit beigetragen.
In dem Bemühen, Vertrauen aufzubauen und mich zu stärken, erzählt Ketsela, dass sie wütend auf sich selbst war. Das Gerät, mit dem sie in der Praxis den HbA1c-Wert, also den durchschnittlichen Blutzuckerspiegel der letzten drei Monate, messen, hat ihr heute einen ziemlich hohen Wert angezeigt. Ich bin erschrocken, als ich das höre, aber ich verberge es. Mit der Zeit kann ein anhaltend hoher Blutzuckerspiegel zu weiteren Komplikationen führen, die die meisten lebenswichtigen Organe, die Augen und das Nervensystem beeinträchtigen können.

Sie fragt mich, wie hoch meine aktuelle Zahl ist, aber ich weiche der Frage aus, ich möchte keine Schmerzen vergleichen. Und ich möchte mir gar nicht vorstellen, was ich ohne all die Technologie tun würde, zu der ich so leicht Zugang habe, ganz zu schweigen von der fast unbegrenzten Versorgung mit der Flüssigkeit, die mich am Leben hält: dem Insulin, das mein Körper nicht mehr produziert, und dem diskreten, fast schmerzfreien Pen, mit dem ich es mir verabreiche. Insulin ist ein Menschenrecht, denn ohne es gibt es kein Leben, aber paradoxerweise wird dieses Recht für einige mehr als für andere gewahrt.
Die Versorgung mit und der Zugang zu dieser lebenswichtigen Flüssigkeit und allen anderen Hilfsmitteln ist in Ländern, in denen eine Krankenversicherung nicht deine gesamten Ersparnisse kostet, eine Selbstverständlichkeit. Aber diejenigen, die die Macht haben, über Leben und Tod zu entscheiden – die Führungskräfte der Pharmaunternehmen, die den Listenpreis für Insulin festlegen –, schaffen einen Mangel an Zugang, der bestimmte Menschen mit Diabetes ohne Gewissensbisse tötet. Seit Jahren profitieren Pharmaunternehmen auf Kosten von Menschenleben, indem sie den Preis für Insulin auf ein exorbitantes Niveau anheben und die Verteilung erschweren.
Typ-1-Diabetes kann weder verhindert noch geheilt werden. Vor über 100 Jahren verkauften die Entdecker des Insulins, Frederick Banting, John Macleod und Charles Best, das Patent für ihre Insulinformel für einen US-Dollar. Der kanadische Chirurg Banting erklärte: »Insulin gehört nicht mir, es gehört der Welt.« Dieselbe Ampulle Insulin, deren Herstellung etwa sechs US-Dollar kostet, kostet einen Patienten ohne Versicherung in den USA heute 332 US-Dollar. Manche Menschen benötigen zwei Ampullen pro Monat, um zu überleben.
Ich zeige Ketsela und Frehiwot meinen Sensor und meine mobile App, die meinen Blutzuckerspiegel minütlich überwachen. Ich erzähle ihnen, wie oft mich der Sensor vor einem drohenden Zusammenbruch aufgrund von Unterzuckerung oder vor einer gefährlichen Tendenz zur Ketoazidose aufgrund von Überzuckerung gewarnt hat. Ich hoffe, dass es eines Tages kein exklusives Hilfsmittel mehr sein wird, sondern eine Grundausstattung, die jedem zur Verfügung steht.
Jeden Tag, jede Stunde
Ohne all die Hilfsmittel, die ich zur Behandlung dieser Erkrankung benötige, hätte ich es zwei Jahre nach der Diagnose T1D nicht gewagt, für ein Jahr nach Äthiopien zu kommen – ohne den Sensor, die Insulinpens, das Blutzuckermessgerät und die Teststreifen sowie die Dutzenden von Insulinpatronen, die ich vor meiner Reise über meine Krankenversicherung erhalten habe. Aber das Leben gab mir eine zweite Chance. Eine Chance, die ich mit einer Kraft ergriff, von der ich nicht wusste, dass ich sie hatte. Ich wollte nicht durch das Leben treiben, ich wollte mich voll und ganz darauf einlassen, mit allen Belastungen, allem Unbekannten und allen Klippen, auf die ich zusteuern würde. Ich musste mehr lieben, und ich liebte wieder, mit neuen Wahrheiten in anderen Realitäten. Ich stieg hinab in tiefe Höhlen, wo das Kribbeln in meinem Bauch fast unerträglich wurde, und stieg auf, wo Wolken meine Haut streichelten.

Ich sitze wieder in meiner Wohnung in Berlin, umgeben von den Farben des Herbstes. Ich erinnere mich daran, wie ich in Äthiopien mit der Realität des Lebens mit Diabetes konfrontiert wurde, als ein Mann vor meinen Augen auf der Straße mit einer Hypoglykämie zusammenbrach. Der November ist der Monat der Diabetesaufklärung, aber wir leben jeden Tag, jede Stunde mit der Krankheit. Fragen wir uns also, warum unser Überleben und unser Recht auf ein würdiges Leben als Luxus behandelt werden, und wer dafür verantwortlich ist.
Novo Nordisk, Eli Lilly und Sanofi – die drei Insulinhersteller, die 90 Prozent des weltweiten Insulins produzieren – haben seit Jahrzehnten ein tödliches Monopol auf die Produktion. Ihre Aufgabe ist es, lebensrettende Medikamente herzustellen und zu vertreiben. Doch sie erzielen jedes Jahr Milliardengewinne, während Menschen mit Diabetes in Äthiopien und auf der ganzen Welt sterben, weil sie keinen Zugang zu diesen Medikamenten haben. Was man braucht, um sich voll und ganz auf das Leben mit dieser Krankheit einzulassen und nicht nur durch es zu gleiten, ist vorhanden, aber für die meisten Betroffenen unzugänglich.
»T1 International« ist eine von Patienten geführte Interessenvertretung, die die Pharmaindustrie für diese Missstände zur Verantwortung ziehen will. Sie tritt ein für das Recht auf den Zugang zu Insulin für alle Menschen und fordert mit der Kampagne »Fight for Five«, dass die Kosten für Insulin und Blutzuckermessgeräte weltweit nicht mehr als fünf Prozent des Einkommens einer Person ausmachen.
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