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Aus: Ausgabe vom 11.10.2025, Seite 1 (Beilage) / Wochenendbeilage
Kinder der Verschwundenen

»Die Großmütter erkannten, dass dies ein langer Prozess sein würde«

Über das Auffinden der Kinder, deren Eltern während der Militärdiktatur in Argentinien vermutlich ermordet wurden. Ein Gespräch mit Claudia Victoria Poblete Hlaczik
Interview: Florencia Beloso, Buenos Aires
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Demonstrationsteilnehmende tragen die Namen und Gesichter der Verschwunden durch ­Buenos Aires (24.3.2024)

Eine der jüngsten Entscheidungen der Regierung von Präsident Javier Milei war es, Argentinien aus dem UN-Menschenrechtsrat zurückzuziehen. Wie haben Sie auf diese Meldung reagiert?

Soweit ich weiß, tritt Argentinien nicht aus dem Rat aus, sondern wird seine Kandidatur für diesen Posten nicht verlängern. Ist das ein Rückschritt? Eindeutig. Wir wissen nur zu gut, dass diese Regierung schon oft gezeigt hat, dass sie wenig Respekt vor internationalen Organisationen hat. Alle internationalen Organisationen, an die wir uns gewandt haben, um die Handlungen dieser Regierung anzuprangern, haben die Regierung dazu gezwungen, Antworten zu geben. Aber die sind immer ziemlich dürftig. Sie antworten zwar, aber immer unter dem Deckmantel der notwendigen Haushaltskürzungen.

Das politische Umfeld für Menschenrechtsorganisationen ist sehr schwierig. Wie wirken sich die Haushaltskürzungen der Regierung auf die tägliche Arbeit der »Abuelas de Plaza de Mayo« (Großmütter der Plaza de Mayo) aus?

Das wirkt sich auf alles aus. Einerseits wurden die Subventionen für die »Großmütter« gestrichen, die wir seit 20 Jahren erhalten hatten. Das war ein schwerer Rückschlag für unsere tägliche Arbeit. Wir mussten uns externe Finanzierungsquellen suchen: Gewerkschaften, Gemeinden und internationale Organisationen. Wir können immer noch nicht alle Kosten decken, die wir decken müssten, und das führt zu einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für alle, die bei den Großmüttern arbeiten.

Die Organisation setzt sich für die Aufklärung der Verbrechen der Militärdiktatur ein, vor allem die Suche nach den Kindern der von ihr verschwundenen Oppositionellen. Wie viele Menschen sind für die »Abuelas« tätig?

Das sind viele: Anwälte, Psychologen, Forscher, Kommunikationsfachleute, Menschen, die Anfragen zur Identität entgegennehmen und die speziell bei den Großmüttern ausgebildet wurden. Viele Kollegen haben uns verlassen, weil die Bedingungen, die wir bieten, nicht optimal sind. Wir verlieren Fachkräfte, die wir nicht so schnell wieder ausbilden können. Das macht uns am meisten traurig. Deshalb haben wir eine Kampagne zum Sammeln von lokalen und internationalen Spenden gestartet und arbeiten mit Stiftungen aus anderen Ländern zusammen.

Auf der anderen Seite stehen wir vor der Unterfinanzierung der öffentlichen Einrichtungen, die die Arbeit der »Großmütter« unterstützen und vom Staat auf Betreiben der »Großmütter« geschaffen wurden, wie die Nationale Kommission für das Recht auf Identität, kurz CONADI, und die Nationale Gendatenbank, BNDG; allesamt unverzichtbare Einrichtungen, um den Prozess der Wiedererlangung der Identität der Betroffenen zu gewährleisten. Die Mitarbeiter dieser Einrichtungen wurden entlassen und in prekäre Beschäftigungsverhältnisse gedrängt. Bei der Nationalen Gendatenbank handelt es sich um eine Einrichtung, die teure, in Dollar bewertete Materialien verwendet, deren Anschaffung ein langwieriges staatliches Verwaltungsverfahren zur Erlangung einer Genehmigung erfordert. Diese administrativen Turbulenzen, die von der Regierung Milei verursacht wurden, führen dazu, dass alles nur sehr langsam vorangeht und äußerst prekär ist.

Diese Kürzungen verlangsamen also die Suche nach den Enkelinnen und Enkeln …

Sobald eine Person mit Zweifeln an ihrer Identität zu uns kommt, kostet der Untersuchungsprozess den Staat enorm viel Zeit, um die Daten zu überprüfen: Wer ist diese Person? Gegebenenfalls brauchen wir Adoptionsunterlagen, Geburtsurkunden, Informationen vom Militär; all das, um dann zu einer Analyse zu gelangen. Im Falle von Unterlagen über Militärangehörige hat das Verteidigungsministerium die Herausgabe von Informationen verhindert. Sowohl die Nationale Gendatenbank als auch die Nationale Kommission für das Recht auf Identität und die »Großmütter« reisen durch ganz Argentinien, um Menschen Gentests zu ermöglichen, die Zweifel an ihrer Herkunft haben. Das ist derzeit ebenfalls schwer aufrechtzuerhalten.

Sie geben dennoch nicht auf.

Die Arbeit wird fortgesetzt. Tatsächlich haben wir seit Mileis Amtsantritt im Dezember 2023 die Identität von drei Enkelkindern feststellen können. Das Rad dreht sich weiter. Wir müssen sicherstellen, dass dies auch so bleibt. Die öffentliche Aufklärung über die Identitätsfeststellungen ist am wichtigsten, weil sie der Gesellschaft und der Welt zeigt, dass dies weiterhin geschieht, und sie ist unsere beste Werbung, weil wir auf diese Weise viel mehr Menschen kennenlernen, die möglicherweise Enkelinnen oder Enkel sind. Dass die »Großmütter« weiterhin nach den heute erwachsenen Kindern ihrer verschwundenen Kinder suchen, ist für mich etwas, das mich immer wieder bewegt. Seit Beginn der zivil-militärischen Diktatur von 1976 bis 1983 sind nun schon fast 50 Jahre vergangen.

Wie haben sich die Anfragen von Menschen bei Ihnen entwickelt, die Zweifel an ihrer Identität bekommen haben?

Im Jahr 2025 sind sie gestiegen. Die Netflix-Serie »El Eternauta« (im April 2025 veröffentlichte Verfilmung des gleichnamigen Science-Fiction-Comicbuchs aus dem Jahr 1957, jW) hat uns viele Anfragen beschert. Außerdem gab es eine sehr starke Kampagne der Organisation HIJOS (Menschenrechtsorganisation, die von Söhnen und Töchtern Verschwundener gegründet wurde, jW). Sie nutzten den Erfolg und die Popularität von »El Eternauta«, um über die Familie von Oesterheld zu sprechen. Diese Serie stieß auch international auf großes Interesse.

Deren Wirkung war sehr stark. Die Handlung basiert auf einem argentinischen Comic von Héctor Germán Oesterheld. Die Geschichte sorgte für viel Aufsehen, da der Schöpfer und seine Familie Opfer der Diktatur wurden. Héctor und seine Töchter waren Mitglieder der Gruppe Montoneros und gelten bis heute als verschwunden. »El Eternauta« hat die Regierung von Milei sehr verärgert. Jetzt, mitten im Wahlkampf für die Zwischenwahlen, verwendet der Präsident den Ausdruck »Nunca Más« – Nie wieder – für seinen Slogan »Kirchnerismo Nunca Más« – Nie wieder Kirchnerismus. »Nunca Más« ist der Name des Abschlussberichts der Nationalen Kommission für das Verschwinden von Personen, der die Greueltaten der zivil-militärischen Diktatur beschreibt. Was halten Sie von dieser perversen Verwendung des Slogans »Nie wieder«?

Das sind Provokationen, auf die wir nicht eingehen sollten. Es ist schmerzlich zu sehen, wie die Menschen diesen Slogan aufnehmen und wiederholen. Viele junge Menschen verstehen nicht, was dieser Slogan gekostet hat, was er wirklich bedeutet. Wir müssen auf den demokratischen Konsens in diesem Land vertrauen.

Apropos junge Menschen: Überlegen Sie bei den »Großmüttern«, wie Sie ihnen die Bedeutung der Erinnerung und der jüngeren Geschichte unseres Landes vermitteln können?

Das ist eine enorme Herausforderung. Die »Großmütter« zeichneten sich immer dadurch aus, dass sie die Dinge weit im Voraus sahen. Sie beriefen die ersten Enkelkinder in den Vorstand, weil sie erkannten, dass dies ein langwieriger Prozess sein würde und sie ihn alleine nicht lange durchhalten könnten. Bis vor kurzem bestand das Präsidium aus zwei »Großmüttern«, der Präsidentin Estela B. de Carlotto und der Ehrenpräsidentin Rosa Tarlovsky de Roisinblit.

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Claudia Victoria Poblete Hlaczik und ihre Großmutter Buscarita Roa

Rosa Roisinblit ist am 6. September im Alter von 106 Jahren verstorben …

Der Rest von uns sind Enkel, Enkelinnen, Brüder und Schwestern, die ihre Geschwister suchen, sowie Tanten, die ihre Neffen suchen, und bilden so eine Art Generationswechsel. Die »Großmütter« denken also schon seit langem darüber nach, wie sie mit jungen Menschen sprechen können. Zuerst sprachen sie mit ihren Enkeln, heute sprechen wir mit der Generation der Urenkel, die glauben, dass ihre Eltern Kinder von Verschwundenen sein könnten. Wir wissen, dass viele junge Menschen von dieser »extremen rechten Welle« erfasst sind, aber wir wissen auch, dass viele es nicht sind, dass sie sich für die Politik der Erinnerung einsetzen und für diese Geschichten empfänglich sind.

Wir denken ständig darüber nach, wie wir junge Menschen durch Bücher, Publikationen und Kunstausstellungen ansprechen können. Es sind schwierige Zeiten. Milo J (19jähriger argentinischer Rapper, jW) wollte beispielsweise ein Konzert in der ehemaligen ESMA (Gedenkstätte im ehemaligen geheimen Gefangenenlager, dem größten der Diktatur, jW) geben, wurde jedoch zensiert. Da merkt man, dass es einen Punkt gibt, der für die Regierung heikel ist, einen Punkt, der ihr unangenehm ist. Estela sagt uns immer, dass wir nicht aufhören sollen, in die Schulen zu gehen, um die Geschichte zu erzählen. All diese Arbeit trägt Früchte.

Haben Sie neben Ihrer Tätigkeit bei den Großmüttern noch einen anderen Beruf?

Ja, ich bin Systemingenieurin und als Mitglied des Vorstands der »Großmütter« unterstütze ich den IT-Bereich der Institution. Es gab kein Bewusstsein dafür, dass ohne diese Arbeit nichts funktioniert.

Arbeiten Sie mit künstlicher Intelligenz?

Wir haben eine Vereinbarung mit einem Unternehmen für künstliche Intelligenz unterzeichnet, das eng mit dem Studiengang Datenwissenschaften der Universidad de Buenos Aires verbunden ist. Die Idee ist, Studenten der Datenwissenschaften für ihren Master zu gewinnen, damit sie bei der Forschung der Großmütter mithelfen. Wir setzen große Hoffnungen in dieses Projekt.

Nun, das wäre doch mal eine gute Verwendung von KI …

Und es ist auch eine gute Möglichkeit, junge Menschen anzusprechen. Und das spiegelt ein wenig wider, was »Abuelas« schon immer war: »Abuelas« waren schon immer Vorreiter. Sie sind um die ganze Welt gereist, um herauszufinden, wie man eine DNA-Analyse durchführt, und sie haben es geschafft. Sie haben eine Verbindung zwischen Forensik und Menschenrechten hergestellt.

Ein weiterer markanter Ausdruck Mileis ist übrigens »der kulturelle Kampf«. Er wiederholt ihn unermüdlich in all seinen Reden: »Wir werden den kulturellen Kampf führen.« Was wäre für Sie der Kampf, den die »Großmütter« führen müssen?

Der Kampf ist einer um die Erinnerung. Es gibt keine Möglichkeit einer »Garantie der Nichtwiederholung«, wenn man sich nicht mit der historischen Erinnerung auseinandersetzt. Argentinien hat im Bereich Erinnerung und Gerechtigkeit großartige Arbeit geleistet. Wir haben viele Fortschritte gemacht. Was international in Argentinien am bekanntesten war, war der Prozess der Erinnerung, Gerechtigkeit und Wahrheit. Die demokratischen Grundlagen basieren auf den »Großmüttern« und »Müttern der Plaza de Mayo«, nicht auf dem Militär und den Nationalhelden.

Welche Welt wollen die Menschen, die diese Regierung unterstützen? Wollen sie eine Welt, in der zwei Mädchen, die sich auf der Straße küssen, mit Steinen beworfen werden? Ist das die Welt, die sie wollen? Das beeindruckt mich immer wieder. Wir wollen eine andere Welt: eine inklusive Welt, die das Recht achtet. Das ist der Kampf der »Großmütter«. Ausgehend von der historischen Erinnerung und dem, wofür unsere Eltern gekämpft haben: eine andere Welt.

Was würden Sie heute einem jungen Menschen sagen, einer Person mit Behinderung, der aufgrund der Kürzungen von Milei bei der Nationalen Behindertenbehörde die Rente gestrichen wurde?

Die »Abuelas« sind ein Symbol für gemeinschaftliches Handeln. Es wurde von Frauen gegründet, die nicht alle etwas von Politik verstanden, Frauen mit unterschiedlichen Lebensgeschichten, aus verschiedenen sozialen Schichten, die es geschafft haben, diese Institution aufzubauen, die bis heute Bestand hat. Wir alle suchen die Enkelkinder von allen. Die Kraft der Botschaft liegt im gemeinschaftlichen Handeln. Die Kämpfe sind dieselben Kämpfe. Das Thema Behinderung berührt mich besonders, weil mein Vater ein Mensch mit Behinderung war, ein Aktivist für die Rechte von Menschen mit Behinderung.

Ich ging persönlich zur Behindertenagentur, als sie noch gut funktionierte, um mit den Mitgliedern der Agentur zusammenzuarbeiten, aus der Perspektive der Erinnerung, des Erbes der »Frente de Lisiados Peronistas« (Front der peronistischen Behinderten, jW), der mein Vater angehörte. Zu sehen, was jetzt mit den Bestechungsgeldern in diesem Korruptionsskandal (um den Präsidenten und dessen Schwester, jW) passiert, ist von enormer Tragweite, weil es etwas über das moralische Niveau der Menschen in der Regierung aussagt. Der Angriff auf diesen Teil der Bevölkerung ist meiner Meinung nach eine schreckliche Sache. Es ist eine sehr schwierige Zeit. Die Menschen sind sehr individualistisch. Aber die Botschaft lautet: Gemeinsames Handeln ist möglich.

Wie viele Enkelkinder müssen noch gefunden werden?

Etwa 300. Es gibt 140 gelöste Fälle, das heißt wiedergefundene Enkelkinder. Es gibt etwa 500 Anzeigen. Das sind alles ungefähre Zahlen, denn wir kennen die Wahrheit nicht. Die Wahrheit kennen nur sie, die Militärs und Zivilisten, die aber an ihrem Schweigen festhalten.

Claudia Victoria Poblete Hlaczik, geboren am 25. März 1978, ist die Tochter zweier am 28. November des Jahres verschwundener politischer Aktivisten. Wie Hunderte andere Neugeborene während der Militärdiktatur in Argentinien wurde sie von einer Offiziersfamilie adoptiert. Sie lebte bis zu ihrem 21. Lebensjahr unter einer anderen Identität. Ihre Geschichte hat der argentinische Schriftsteller und Journalist Federico Bianchini in seinem Buch »Tu nombre no es tu nombre« (Dein Name ist nicht dein Name) rekonstruiert.

Ihr Vater, der in Chile geborene José Liborio Poblete Roa, hatte als Jugendlicher einen Unfall, nachdem ihm beide Beine amputiert werden mussten. 1973 reiste er zusammen mit seiner Mutter in die argentinische Hauptstadt Buenos Aires für eine Rehabilitationsbehandlung. In Argentinien lernte er seine spätere Frau Marta Gertrudis Hlaczik kennen. Beide engagierten sich in der »Frente de Lisiados Peronistas« (Front der peronistischen Behinderten).

Claudias Großmutter ist die heute 82jährige Buscarita Roa, Vizepräsidentin der Organisation »Abuelas de Plaza de Mayo« (Großmütter der Plaza de Mayo).

Infos unter: abuelas.org.ar

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