Unermüdlich im Kampf gegen die Diktatur
Von André Dahlmeyer, Buenos Aires
Am Dienstag haben Menschenrechtsorganisationen in Buenos Aires bekanntgegeben, dass die beiden Madres de Plaza de Mayo (Mütter vom Platz der Mai-Revolution) Enriqueta Rodríguez de Maroni und Dolores »Lolín« Rigoni im Alter von 98 beziehungsweise 100 Jahren verstorben sind. Maroni gehörte zur »Línea Fundadora«, also den Gründerinnen der 1977 ins Leben gerufenen Madres, deren Präsidentin sie noch von 2022 bis 2024 war. Wobei als Gründerinnen der Madres natürlich alle Mütter gelten, die bei den ersten Demonstrationen auf der Plaza de Mayo mit dabei waren.
1986 kam es zur Spaltung der Bewegung, da sich viele nicht mehr von ihrer Präsidentin Hebe de Bonafini (1928–2022) repräsentiert fühlten, der sie Demokratiedefizite vorwarfen. Bonafini hatte der zivil-militärischen Diktatur in Argentinien (1976–1983) für alle Zeiten den Krieg erklärt. Bis zu ihrem Tod zeigte sie sich absolut unversöhnlich. Die Madres der Línea Fundadora indes waren vor allem daran interessiert, ihre »verschwundenen« Familienangehörigen wiederzufinden, also sie beerdigen und sich von ihnen verabschieden zu können.
Am 5. April 1977 waren die Tochter von Enriqueta Maroni, María »Bety« Beatriz (23), und ihr Freund Carlos Alberto Rincón (22) von Sondereinheiten aus ihrem Haus in einem Barrio der argentinischen Hauptstadt entführt worden. Die schwangere María Beatriz arbeitete als Sozialarbeiterin in zwei Gesundheitszentren in den ärmlichen Vorstädten, Carlos Alberto studierte Soziologie und Rechtswissenschaften und jobbte bei den Aerolineas Argentinas. Beide waren Aktivisten der Peronistischen Jugend (JP) und der militanten Parteiorganisation »Montoneros«. Bis heute sind sie »verschwunden«. Auch das Kind der beiden, das im November oder Dezember 1977 vermutlich in einem Folterzentrum zur Welt kam, wurde nie wiedergefunden. Die meisten der um die vierhundert so geborenen Kinder wurden von Militärs zwangsadoptiert. Ebenfalls am 5. April 1977 wurden bei einem anderen Einsatz zudem der Bruder von Beatriz, Juan Patricio, und seine Frau entführt. Auch er tauchte nie wieder auf. Seine Frau wurde Tage darauf freigelassen.
Die nun verstorbene Enriqueta Maroni war Lehrerin. Im Grunde kennt sie jeder, der sich je für Argentinien interessiert hat. Sie war es, die vor der Fußball-WM 1978 einem niederländischen TV-Team gesagt hatte: »Sie kamen in unsere Häuser, durchsuchten sie und stahlen, was sie wollten. Sie zerstörten alles, raubten all unseren Besitz. Das reichte ihnen nicht. Sie stahlen auch unsere Kinder. Wir hörten nie wieder etwas von ihnen. Es war das Militär. Die Milicos!« Maroni starb als zeit ihres Lebens aktives und leuchtendes argentinisches Symbol für Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit.
Nach dem Tod ihrer lebenslangen Freundin Inés Rigo de Ragni im vergangenen September war die 100jährige Dolores Noemí López Candan de Rigoni die letzte überlebende »Mutter« aus Neuquén in Patagonien. Noch bis März hatte »Lolín« an den auch in der Provinzhauptstadt stattfindenden Donnerstagsmärschen zur Erinnerung an die Verbrechen der Diktatur teilgenommen. Sie »transformierte ihren tiefsitzenden Schmerz in eine kollektive Angelegenheit, sie hörte nie auf zu schauen, zu fragen und zu fordern«, bemerkte der ortsansässige Anwalt Darío Martínez zu ihrem Tod auf »X«. Eines ihrer Kinder, Roberto »Champa« Rigoni (JP und Montoneros), war am 16. April 1977 vom Militär entführt worden. Er wurde später in einem Folterzentrum des urbanen Konzentrationslagers Campo de Mayo noch einmal lebend gesehen. Sein Leichnam wurde vier Tage später in González Catán gefunden, dem Ort mit dem berüchtigten deutschen Mercedes-Werk, aus dem zahlreiche Gewerkschafter »verschwanden«. Zwar wurde er als »John Doe« beerdigt, also als »Unbekannter«. Doch noch während der Diktatur wurden seine sterblichen Überreste 1981 von der Forensik identifiziert. Obwohl aber das Schicksal ihres Sohnes aufgeklärt war, kämpfte »Lolín« wie Enriqueta Maroni bis zuletzt gegen das Vergessen der Verbrechen der Militärdiktatur.
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