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Aus: Ausgabe vom 09.10.2025, Seite 8 / Ausland
Indigene in Guatemala

»Wir brauchen eine Neugründung des Staates«

Guatemala: Auch zwei Jahre nach Arévalos Amtsantritt kämpfen Indigene gegen Vertreibung und Korruption. Ein Gespräch mit Edgar Godoy
Interview: Thorben Austen, Guatemala-Stadt
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Indigene Unterstützer von Präsident Bernardo Arevalo demonstrieren in Guatemala-Stadt (14.1.2024)

Vor zwei Jahren begann der landesweite Generalstreik, bei dem indigene und zivilgesellschaftliche Organisationen für den Amtsantritt von Bernardo Arévalo auf die Straße gingen. Hat sich der Widerstand gelohnt?

Vor zwei Jahren hatten wir die Situation, dass der Staat faktisch von kriminellen Netzwerken übernommen war. Jetzt unter der Regierung Arévalo sind es noch die Justiz und das Parlament. Diese beiden Instanzen lassen Arévalo nicht regieren. Nahezu täglich bestellt der Kongress, von den korrupten Parteien kontrolliert, die Minister von Arévalo ein, lässt sie Bericht erstatten, raubt ihnen Zeit und lässt sie nicht ihre Arbeit als Minister machen. Arévalo kämpft an drei Fronten – gegen die Justiz, die Staatsanwaltschaft und gegen die Mehrheit im Kongress, ein Monster mit drei Köpfen.

Kritik an Arévalo haben Sie keine?

Wir sehen das Problem, dass es noch wenig sichtbare Fortschritte gibt, und stellen uns diesbezüglich Fragen. Aber wir glauben weiterhin an das Wort des Präsidenten und stehen in diesem Sinne zur Regierung.

Auf einer Pressekonferenz zum zweiten Jahrestag der Volkserhebung von 2023 haben Sie ein Gesetz gefordert, das die öffentlichen Funktionsträger stärker kontrollieren soll. Wie soll dieses Gesetz aussehen?

Dieses Gesetz, das der Kongress beschließen müsste, sollte klare Strafen für den Missbrauch öffentlicher Gelder vorsehen. Jetzt bleiben Fälle von Korruption und Unterschlagung straffrei. Ein solches Gesetz müsste auch Mechanismen vorsehen, wie das Volk öffentliche Bedienstete direkt absetzen kann, wenn diese sich der Korruption und Unterschlagung schuldig machen.

Vor etwa zwei Monaten wurde Leocadio Juracán, eine der zentralen Führungspersönlichkeiten Ihrer Organisation, verhaftet, kam aber nach gut einer Woche wieder frei. Was war passiert?

Leocadio sah sich im Zusammenhang mit vermeintlicher Landbesetzung dem Vorwurf der Wilderei und der vorsätzlichen Brandstiftung von Urwald ausgesetzt. Zum einen haben wir juristisch nachweisen können, dass das fragliche Land den indigenen Völkern der Region gehört, und zum anderen war Leocadio zur angeblichen Tatzeit gar nicht vor Ort. Er hat an Treffen von staatlichen Kommissionen teilgenommen, die nach dem Friedensabkommen 1996 ins Leben gerufen wurden. Daher brachen die erfundenen Vorwürfe in sich zusammen, und Leocadio kam schnell frei. Sein Fall ist aber exemplarisch für viele. Unsere Compañeros Jorge Coc Coc und Marcelino Xol wurden 2018 in einer konstruierten Mordanklage zu 35 Jahren Haft verurteilt. Uns besorgt auch die Kriminalisierung von indigenen Bürgermeistern und die Festnahme des Studenten Edmar Arriola, dem die Beteiligung an der Besetzung der Universität im Jahr 2023 vorgeworfen wird.

Die Situation auf dem Land ist weiter kritisch. Landvertreibungen nehmen sogar zu, 2024 wurden 20 Morde an Umweltschützern registriert.

Der Konflikt um Land besteht schon Jahrzehnte. Es gibt da ein ganz grundsätzliches Problem. 80 Prozent des nutzbaren Landes werden für Monokulturen genutzt, die exportiert werden. Das bringt für Guatemala weder Nahrungsmittel noch fließen die Gewinne zurück ins Land. Kleinbauern haben nur 20 Prozent des bebaubaren Bodens, produzieren aber über 70 Prozent der Lebensmittel, die im Land konsumiert werden. Für viele Menschen reicht das Land, das sie haben, aber nicht zum Leben.

Müsste hier nicht grundsätzlicher angesetzt werden als Arévalo es tut?

Unsere ist die zweitälteste Organisation von Bauern und Landarbeitern in Guatemala. Wir kämpfen seit 43 Jahren für die Rechte von Landarbeitern und Kleinbauern und für den Schutz der Natur, und wir stehen an der Seite derer, die von Gewalt betroffen sind. Selbstverständlich brauchen wir eine grundlegende Neugründung des Staates, eine wirkliche Freiheit für das Volk – nicht die sogenannte Unabhängigkeit von 1821, die nur die Unabhängigkeit einiger weniger war. Dies ist aber ein langer Weg.

Edgar Tomás Alejandro Godoy ist Sprecher des Comité Campesino del Altiplano (Bauernkomitee des Hochlandes, CCDA)

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