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Aus: Ausgabe vom 03.09.2025, Seite 2 / Ausland
Guatemala

»Die Gefahr des Sturzes Arévalos besteht weiterhin«

Guatemala: Indigener Gemeindeführer verhaftet. Korrupte Eliten beherrschen Justiz und Parlament. Ein Gespräch mit Bibiana Leticia Ramírez
Interview: Thorben Austen
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Präsident Bernardo Arévalo ehrt die Forscherin Marta Elena Casaús Arzú in Guatemala-Stadt (1.7.2025)

Am vergangenen Donnerstag wurde der indigene ehemalige Vizebürgermeister von Sololá, Esteban Toc Tzay, verhaftet. Was steckt hinter der Festnahme?

Esteban Toc Tzay wurde wegen der Blockaden von 2023 festgenommen, mit denen wir den Wählerwillen und die Demokratie verteidigten. Die korrupten Eliten des Landes wollten damals den Amtsantritt von Bernardo Arévalo verhindern. Bereits im April wurden Luis Pacheco und Héctor Chaclán aus Totonicapán verhaftet. Ihnen wird – wie nun auch Esteban – unter anderem Terrorismus, Aufruhr und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen.

Was bedeutet es für die indigenen Selbstverwaltungsstrukturen, wenn diese jetzt als kriminelle Vereinigungen verfolgt werden?

Die Anklagepunkte sind ein deutliches Signal seitens der Staatsanwaltschaft an die indigenen Völker: Sie sollen eingeschüchtert werden und sich nicht gegen das System zur Wehr setzen. Wir befürchten, dass die Beschuldigten lange in Haft bleiben, ohne dass es überhaupt zu Prozessen kommt. Zudem soll es mehr als 100 weitere Haftbefehle geben – bislang ist unklar, gegen wen genau.

Die Vorwürfe sind haltlos. »Aufruhr« etwa ist laut Definition eine gewaltsame Erhebung gegen die Autorität – so etwas hat es nicht gegeben. Selbst die Presse berichtete, dass während der Proteste in der Hauptstadt die Mordrate auf den Straßen zurückging. Die Entscheidung für die Blockaden trafen unsere Versammlungen. Nach unseren Gesetzen sind die gewählten Autoritäten verpflichtet, solche Beschlüsse umzusetzen. Das ist unsere Form des Zusammenlebens, die wir seit Jahrtausenden praktizieren – während die Republik Guatemala erst seit 1821 existiert.

Sie haben immer betont, für die Verteidigung der Demokratie zu demonstrieren und nicht für Bernardo Arévalo. Dennoch: Er ist im Amt dank der Proteste. Tut er genug gegen die Kriminalisierung?

Die Exekutive allein kann wenig ausrichten. Justiz und Parlament werden vom sogenannten Pakt der Korrupten kontrolliert. Arévalo verurteilt die Repression und zeigt sich solidarisch. Nach den Festnahmen von Pacheco und Chaclán kamen wir zu dem Schluss, dass der »Pakt der Korrupten« wollte, dass es zu unkontrollierbaren Protesten kommt. So hätte man Arévalo als Versager darstellen und anschließend einen bewaffneten Putsch gegen ihn rechtfertigen können. Die Gefahr eines Sturzes Arévalos besteht weiterhin.

Wie bewerten Sie die Regierung Arévalo nach nunmehr 20 Monaten? Im Land ist viel Enttäuschung zu hören.

Ich kann diese Enttäuschung nachvollziehen – wir hatten kurzfristigere Erfolge erwartet. Doch solange Justiz und Parlament vom Pakt kontrolliert werden, sind große Veränderungen schwer durchzusetzen. Hoffnung geben die Neuwahlen im Justizapparat 2026. Und bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2027 wird es entscheidend sein, auch im Parlament eine Mehrheit gegen die korrupten Parteien zu erreichen.

Sehen Sie kurzfristig überhaupt Erfolge?

Ja, durchaus. Es gibt mittlerweile 13 Abkommen mit indigenen Völkern, die auf Verbesserungen der Infrastruktur, Straßenbau sowie den Ausbau von Gesundheits- und Bildungssystem abzielen. Zudem finden monatliche Treffen zwischen Vertretern indigener Völker und der Regierung statt. Dort entstand auch die wichtige Gesetzesreform, die Arévalo nun durchs Parlament bringen will: Land, auf dem Schulen oder Gesundheitszentren errichtet werden, soll künftig nicht mehr automatisch an den Staat fallen, sondern im Besitz der indigenen Völker bleiben.

Um dieses Gesetz ranken sich allerdings viele Missverständnisse: Von seiten der Landarbeiterorganisation Codeca heißt es, es diene Investitionen und Großprojekten; andere behaupten, es bereite eine Landreform vor, weil darin von »angestammtem indigenem Land« die Rede ist. Manche interpretieren das so, dass Arévalo uns historisch geraubtes Land zurückgeben wolle. Beides halte ich für Fehlinterpretationen. Eine Landreform wäre zwar notwendig und gerecht, ist im Moment aber politisch nicht durchsetzbar.

Bibiana Leticia Ramírez ist Repräsentantin des Maya-Volkes der Mam in ­Quetzaltenango

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