»Für sie ist Strafverfolgung ein Kostenfaktor«
Interview: Thorben Austen
Das Institut für vergleichende Studien in Kriminal- und Sozialwissenschaften mit Sitz in Argentinien hat die Justizsysteme in Lateinamerika untersucht. Wie haben sich die Institutionen in Argentinien seit dem Amtsantritt von Präsident Javier Milei verändert?
Es gibt einen strukturellen Wandel. Dieser betrifft nicht nur das Justizwesen, sondern auch die Sozialstrukturen im Land. Im Justizwesen gibt es vor allem im zweiten Jahr seiner Amtszeit einen rasanten Umbau, einen Austausch von Richtern mit sehr konservativen und solchen, gegen die es Vorwürfe der Korruption gibt. Die Kontrolle der Geheimdienste, auch über die Verwendung finanzieller Mittel, wird reduziert. All dies geht zu Lasten der Bürger- und der Grundrechte der Bevölkerung. Wir als Institut sitzen in Argentinien, aber erstellen regelmäßig Berichte über verschiedene Länder. Das Ziel sind Reformen des Justizsystems zur Stärkung von Rechtsstaat und Demokratie in der Region.
Sie haben auch einen Bericht zu Guatemala verfasst, der im Juni der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Zu welchem Ergebnis kommen Sie?
Seit María Consuelo Porras im Mai 2018 die Generalstaatsanwaltschaft übernommen hat, ist die Zahl der Fälle, in denen sich die Staatsanwaltschaft mit Verbrechen während des Bürgerkrieges (1960–1996, jW) beschäftigte, um mehr als die Hälfte zurückgegangen: von 14 auf sechs Prozent. Es gibt die klare Tendenz des Bremsens von Antikorruptionsermittlungen. Auf der anderen Seite nahm die willkürliche Verfolgung von Sozialaktivisten und Juristen, insbesondere Antikorruptionsermittlern, zu. Wir haben 100 Fälle von Aktivisten und 40 von Juristen dokumentiert, die ins Exil gehen mussten. Gegen 60 gab es Verfahren und Haftstrafen.
Ist die Situation der fehlenden Unabhängigkeit der Justiz in Guatemala gravierender als in anderen Ländern des Kontinents?
Einerseits ist Guatemala schon eines der besten Beispiele für die Kaperung der Justiz. In Guatemala war Ende 2023 die Gefahr real, dass die Staatsanwaltschaft den Amtsantritt des demokratisch gewählten Präsidenten Bernardo Arévalo verhindern könnte. Diese Tendenzen gibt es aber auch in anderen Ländern, das liegt vor allem am Anstieg der Kriminalität und Gewalt.
Inwiefern beeinflusst die organisierte Kriminalität das Justizsystem?
Das sind in Lateinamerika heute keine Banden mehr, die irgendwo versteckt leben, sondern es sind kriminelle Unternehmen mit enormen Gewinnspannen. Nicht nur im Drogenhandel, auch im illegalen Bergbau, im Menschen- und Waffenhandel und in anderen Bereichen. Für diese Unternehmen ist Strafverfolgung vor allem ein Kostenfaktor, der zu minimieren ist. Also infiltrieren sie Staatsanwaltschaften und teilweise auch Strafgerichte, um diese zu neutralisieren. Neben traditionell betroffenen Ländern wie Kolumbien, Mexiko und der Region Zentralamerika gibt es mittlerweile auch in Ländern wie Brasilien, Uruguay und Chile expandierende, sich entwickelnde Strukturen der organisierten Kriminalität. Der starke Anstieg der Gewalt in Ecuador, einem ehemals sehr sicheren Land, ist ein Beispiel für die Auswirkungen dieser transnationalen kriminellen Unternehmen.
Welchen Effekt hatte deren gewaltsame Bekämpfung?
Die Militarisierung als Antwort auf die organisierte Kriminalität hat bisher immer nur dazu geführt, die Gewaltspirale noch weiter zu drehen.
Gibt es auch Beispiele, wo die Justiz erfolgreich gegen kriminelle Strukturen vorging?
Was heute absurd klingt: Guatemala war ein positives Beispiel. Bevor Porras und damit der berüchtigte Pakt der Korrupten die Staatsanwaltschaft übernahmen, wurden in den Amtszeiten von Claudia Paz y Paz und Thelma Aldana (Generalstaatsanwältinnen von insgesamt 2010 bis 2018 und heute im Exil lebend, jW) bedeutende Fortschritte in der Bekämpfung der organisierten Kriminalität gemacht. Gemeinsam mit Bemühungen der Zivilgesellschaft gingen Mordrate und die Kriminalität zurück. Wichtig ist die Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Gruppen, die eine unabhängige, kommunitäre Justiz unterstützen. Positive Beispiele gibt es auch in einigen Bundesstaaten Mexikos.
Julián Alfie ist geschäftsführender Direktor des argentinischen Instituts für vergleichende Studien in Kriminal- und Sozialwissenschaften (INECIP)
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