Straflos in Syrien
Von Wiebke Diehl
Es ist ein Paradebeispiel für Verschleierung: Ein Anfang der Woche von der demokratisch nicht legitimierten syrischen »Übergangsregierung« veröffentlichter Bericht über die im März von sogenannten Sicherheitskräften und dschihadistischen Milizionären begangenen Massaker an Alawiten negiert die längst belegte direkte Verantwortung des Verteidigungsministeriums. Im Bericht des nach den Massakern unter internationalem Druck eingesetzten Untersuchungsausschusses ist von »Personen, die militärische Befehle missachtet und Misshandlungen begangen haben«, und von »unregulierten« Praktiken die Rede. »Banden« hätten sich als Sicherheitskräfte ausgegeben, Beweise für direkte Anordnungen der syrischen Militärführung gebe es nicht.
Eine am 30. Juni von der Nachrichtenagentur Reuters veröffentlichte Recherche kam allerdings zu dem Schluss, dass es sich bei den Tätern keinesfalls um einige außer Kontrolle geratene Kämpfer handelte. Vielmehr führe deren Befehlskette direkt zu Kommandeuren, die heute im Dienst der syrischen Regierung unter dem Anführer des Al-Qaida-Ablegers Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) stünden. Viele von ihnen seien nach ihren Taten in den Küstenregionen sogar befördert worden.
Wie auch der jetzt von der Untersuchungskommission veröffentlichte Bericht benannte Reuters einen Aufstand von assadtreuen Offizieren mit über 200 getöteten »Sicherheitskräften« als Auslöser der Gewalt. Zugleich legte der Reuters-Bericht, der sich auf die Aussagen von über 200 Familien, 40 »Sicherheitskräften« und Kämpfern sowie auf verifizierte Videos und interne Chatprotokolle stützt, aber auch dar, dass der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Hassan Abdel-Ghani, die Banden über eine Telegram-Gruppe selbst steuerte. Diese Fakten und die Straflosigkeit sind vor dem Hintergrund, dass die Morde, die Folter, die Vergewaltigungen, die Vertreibungen und die Demütigungen an den Alawiten und anderen Minderheiten bis heute andauern, besonders schwerwiegend. Erst am Mittwoch hatte eine Gruppe von UN-Experten ihre Besorgnis über gezielte Entführungen, das Verschwindenlassen, Zwangsverheiratungen und geschlechtsspezifische Gewalt gegen syrische Frauen und Mädchen, insbesondere aus der alawitischen Gemeinschaft, zum Ausdruck gebracht. Explizit wiesen sie auf den »eklatanten Mangel an wirksamer Reaktion der syrischen Übergangsregierung« hin und betonten, unter den Tätern seien »Sicherheitskräfte« und andere Personen mit Verbindungen zur syrischen Regierung.
Entgegen übereinstimmenden Berichten behauptet der von der syrischen »Übergangsregierung« eingesetzte Untersuchungsausschuss in seinem jetzt veröffentlichten Report, die Täter würden verfolgt und »Entschädigungsprogramme« für die Opfer eingerichtet. Erschienen ist der Bericht drei Monate später als ursprünglich angekündigt. Nach Angaben von Jasser Al-Farhan, einem Mitglied des Komitees, wurden 930 Zeugen befragt und 33 Orte in den Provinzen Tartus, Latakia und im ländlichen Hama besucht.
Sowohl der Bericht dieser Untersuchungskommission als auch Reuters setzen die Opferzahl mit knapp 1.500 vergleichsweise niedrig an. Inoffiziellen Schätzungen zufolge liegt diese bei bis zu 10.000. Die Verzögerung bei der Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse schob der Ausschuss auf die jüngsten gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Drusen und teilweise in die »Sicherheitskräfte« integrierten dschihadistischen Milizen im Süden Syriens mit mindestens 1.300 Toten – obwohl der Bericht bereits lange vor deren Beginn hätte erscheinen sollen. Viele der extremistischen Milizionäre, die sich bereits bei den Massakern an der syrischen Küste im März gefilmt hatten, tauchen auch auf Aufnahmen aus dem südsyrischen Suweida auf, wo sie Massaker an der drusischen Minderheit verüben. Anfang der Woche leitete die »Übergangsregierung« wegen mutmaßlicher außergerichtlicher Hinrichtungen an Drusen ebenfalls eine Untersuchung ein. Das Verteidigungsministerium gab zu, dass zahlreiche Täter militärische Uniformen trugen.
75 für 75
Mit der Tageszeitung junge Welt täglich bestens mit marxistisch orientierter Lektüre ausgerüstet – für die Liegewiese im Stadtbad oder den Besuch im Eiscafé um die Ecke. Unser sommerliches Angebot für Sie: 75 Ausgaben der Tageszeitung junge Welt für 75 Euro.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Regio:
Mehr aus: Ausland
-
Einig in der Uneinigkeit
vom 25.07.2025 -
»Für sie ist Strafverfolgung ein Kostenfaktor«
vom 25.07.2025 -
Feuer wütet
vom 25.07.2025 -
Sanktionen tödlicher als Kriege
vom 25.07.2025 -
Symbolisches am Bosporus
vom 25.07.2025 -
Meloni statt Macron
vom 25.07.2025 -
Grenzkonflikt eskaliert
vom 25.07.2025