Symbolisches am Bosporus
Von Reinhard Lauterbach
Die dritte Verhandlungsrunde zwischen Russland und der Ukraine in Istanbul am Mittwoch abend hat die erwarteten eher symbolischen Ergebnisse erbracht. Wie beide Seiten nach Abschluss der Gespräche mitteilten, sollen weitere Gefallene sowie von jeder Seite 1.200 Kriegsgefangene und aus politischen Gründen festgehaltene Zivilisten übergeben werden. Russland schlug zudem vor, in regelmäßigen Abständen entlang der Front kürzere Feuerpausen von 24 oder 48 Stunden zu vereinbaren, damit jede Seite Verwundete und Tote vom Gefechtsfeld bergen kann und damit künftige Austausche dieser Art überflüssig würden. In Zukunft sollen demnach Arbeitsgruppen auf digitalem Weg solche kleinen Schritte absprechen, um »Steuergeld zu sparen«. Ein Indiz dafür, dass Moskau der Ukraine die öffentliche Aufmerksamkeit, die von direkten Begegnungen ausgeht, entziehen will, solange Kiew sich nicht in den politischen Hauptfragen bewegt.
An dieser Stelle gab es offenbar von keiner Seite Bewegung. Ukraines Präsident Wolodimir Selenskij hatte zum Beispiel verlangt, bis Ende August ein Spitzentreffen mit Wladimir Putin zu organisieren; dies hätte ein »Durchbruch zu einer Friedenslösung« sein sollen. Die russische Seite war jedoch nicht bereit, über dieses Thema auch nur zu sprechen, ebenso wenig die ukrainische über die Forderungen Moskaus nach einem Verzicht Kiews auf NATO-Mitgliedschaft oder einem Ende von Zwangsmobilisierung und westlichen Waffenlieferungen.
So ging der gegenseitige Raketen- und Drohnenbeschuss trotz der Verhandlungen am Bosporus unvermindert weiter. Die Ukraine feuerte Drohnen auf Treibstofflager nahe Sotschi an der Schwarzmeerküste ab, Russland beschoss Hafenanlagen und die Altstadt von Odessa sowie Ziele in der westlichen Landeshälfte. Der Bürgermeister von Kramatorsk im Donbass rief im ukrainischen Fernsehen die verbliebenen 50.000 Einwohner der Stadt auf, diese zu verlassen. Russland beschieße den Ort, der an der Westgrenze des Bezirks Donezk liegt, fast pausenlos mit Drohnen, Gleitbomben und Artillerie. Die Sicherheit der Einwohner sei nicht mehr zu garantieren, umschrieb der Bürgermeister den chronischen Mangel an Luftverteidigungsmitteln auf ukrainischer Seite.
Die Front ist rund um das seit Monaten umkämpfte Pokrowsk noch etwa 30 Kilometer von Kramatorsk entfernt. Russland hat Pokrowsk an zwei Seiten um jeweils etwa 15 Kilometer überflügelt und bereitet offenbar eine Einschließung der Stadt vor. Die russische Armee versucht, die letzten zwei Versorgungsrouten der Stadt abzuschneiden. In den Nachbarorten finden zähe Kämpfe um die dortigen Bergwerke und vor allem deren Abraumhalden statt. Diese gewähren eine Rundumsicht für Artilleriebeobachter und Drohnenpiloten und sind dementsprechend militärisch begehrt.
Der Konflikt um die Zukunft der ukrainischen Antikorruptionsbehörde nimmt derweil alle Züge eines innenpolitischen Machtkampfs an. Der Selenskij unterstellte Geheimdienstchef Wasil Maljuk sagte, niemand habe irgendwelche Behörden geschlossen oder plane dies. Es gehe darum, dass Präsidialverwaltung und Ermittler gemeinsam für das Wohl der Ukraine arbeiteten. Hintergrund ist, dass die Antikorruptionsbehörden durch Maljuk gegründet und zu einer Art Nebenexekutive aufgebaut worden sind – vor allem mit US-amerikanischem Geld. Der Vorstoß Selenskijs, sie seiner Kanzlei zu unterstellen, zielt darauf, diese verfassungsrechtliche Anomalie zu beseitigen und zu verhindern, dass innenpolitische Gegner wie der frühere Präsident Petro Poroschenko – aber auch westliche Geldgeber der Ukraine – die im Prinzip von niemandem ernsthaft bestrittene Korruption des ukrainischen Staatsapparats gegen Selenskij ausnutzen können. Poroschenko und der Kiewer Bürgermeister Witalij Klitschko werden ihrerseits von der Präsidialadministration seit Monaten mit Korruptionsermittlungen überzogen. Klitschko will diese abgesetzt sehen, weil er die Geldflüsse aus Immobiliengeschäften in der Hauptstadt nicht mit der Präsidialverwaltung teilt, sondern sich davon eine eigene Machtposition aufbaut.
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