Alle Opfer haben einen Namen

Auf unserer Buchvorstellungsreise »Völkermord in Gaza. Eine politische und rechtliche Analyse« haben Norman Paech und ich versucht, Palästinenser als Menschen zu sehen, die an unser Mitgefühl appellieren. Die Tausenden von Getöteten in Gaza sollten als Menschen in unserer Erinnerung wieder lebendig werden. Ich stellte unseren Zuhörern den Fall Aschraf Al-Dschedis vor. Kennengelernt hatte ich ihn, als er gerade seinen Bachelor abgeschlossen hatte. Noch immer sehe ich ihn vor mir, wie er sich um ein deutsches Stipendium für einen Master in Jordanien bewirbt und wenige Jahre später um ein Promotionsstipendium für Deutschland. Ich freute mich riesig, als er mit seiner Promotionsurkunde von der Universität Bielefeld zurückkam nach Gaza, um dort zu lehren. Die Nachricht von seinem Tod am 24. Oktober 2024 durch einen Bombenangriff der israelischen Armee im Nuseirat-Flüchtlingslager südlich von Gaza-Stadt entsetzt und erschüttert uns alle.
Das Schicksal von Husam Abu Safija hinterließ einen bleibenden Eindruck. Er war Direktor des Kamal-Adwan-Krankenhauses im Norden Gazas und weigerte sich bis zuletzt, seine Arbeit dort zu verlassen. Soldaten schlugen ihn zusammen und brachten ihn ins Folterlager von Sde Teiman, laut der Hilfsorganisation B’tselem »die Hölle«. Dort wurde er fast zu Tode gefoltert. Danach brachte man ihn ins Gefängnis Ofer zwischen Jerusalem und Ramallah. Auch Ofer ist zum Foltergefängnis geworden, wie alle Haftanstalten für Palästinenser.
Viele Zuhörer weinten, als sie die Geschichte der gerade vierjährigen Mira hörten, die mit einem Kopfschuss ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Das Projektil saß in ihrem Gehirn fest. Die US-amerikanische Ärztin Miri Sayed operierte sie, und Mira überlebte. Die Besucher unserer Vorstellungen konnten kaum glauben, dass Kinder im palästinensischen Westjordanland schon seit Jahren gezielt erschossen werden, ohne dass den israelischen Soldaten, die diese Kriegsverbrechen begehen, irgend etwas geschieht. Die Aussagen von Miranda Cleland von »Defense for Children International« lassen daran aber keinen Zweifel.
Kaum einer hatte gewusst, dass es nicht nur die 251 israelischen bzw. internationalen Geiseln in Gaza gibt, sondern auch Tausende von »institutionalisierten palästinensischen Geiseln« in israelischen Gefängnissen. Nur wenige hatten schon einmal von »Administrativhaft« gehört: Menschen werden verhaftet und festgehalten ohne Anklage, ohne Prozess und abschließendes Urteil. Der Bericht über die aktuellen Haftbedingungen in diesen israelischen Gefängnissen, in denen Palästinenser auf vielfältige Art gefoltert werden, rief Entsetzen hervor. Unvorstellbar erschien, dass Häftlinge dort an Hunger und Krankheiten sterben, wie zuletzt der 17jährige Walid Ahmed aus Silwad in der Westbank, dessen Darmentzündung unbehandelt blieb.
Das Interesse an unserer Vorstellungsreise und an unserem Buch, das Interesse an den Informationen, die alle in den deutschen Medien vermissten, war enorm. Unklar bleibt, warum reihenweise deutsche Universitäten verhinderten, dass diese Berichte in aller Sachlichkeit weitergegeben werden. Um das Wissenschaftsverständnis ist es offensichtlich schlecht bestellt: Wissenschaft soll nur noch möglich sein mit »Ausgewogenheit« und »Neutralität«. Vergessen wird, dass Wissenschaftler die Aufgabe haben, kritisch und subversiv der Wahrheit auf den Grund zu gehen.
An der Wand der Universität Freiburg ist zu lesen: »Die Wahrheit wird euch frei machen.« Das hat die Leitung wohl vergessen. Um so mehr ist der Besucher erstaunt über einen anderen Spruch, der seit den dreißiger Jahren über dem Eingang steht: »Dem ewigen Deutschthum.« Ein Nazispruch bleibt – die Suche nach Wahrheit ist verboten bzw. wird sanktioniert.
Dies ist die 40. Kolumne von Helga Baumgarten, emeritierte Professorin für Politik der Universität Birzeit in Palästina. Gemeinsam mit Norman Paech stellte sie am 27. Mai in der Maigalerie der jW das gemeinsame Buch »Völkermord in Gaza« vor. Ein Mitschnitt findet sich unter kurzlinks.de/Gaza-Maigalerie
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