Das Martyrium der Kinder
Von Helga Baumgarten
Seit dem erneuten Beginn des Krieges am 18. März wurden in Gaza täglich 100 Kinder verletzt oder getötet. Das teilte der Generalkommissar des UN-Palästina-Hilfswerks (UNRWA), Philippe Lazzarini, am vergangenen Sonnabend in sozialen Netzwerken mit. Seit Oktober 2023 seien rund 15.000 Kinder getötet worden. »Gaza ist zum ›No land‹ für Kinder geworden«, schließt Lazzarini. »Nichts rechtfertigt die Tötung von Kindern, egal wo.« Das palästinensische Zentralbüro für Statistik meldet, dass inzwischen 876 Kinder getötet worden sind, die noch kein Jahr alt waren, also Babys. Mindestens 52 Kinder starben infolge von Hunger und Mangelernährung. 39.000 Kinder wurden zu Waisen gemacht, 17.000 davon zu Vollwaisen.
US-amerikanische Ärzte, die in Krankenhäusern in Gaza arbeiteten, berichten über die gezielte Tötung von Kindern. Zuerst schrieb die New York Times (NYT) am 9. Oktober 2024 darüber. Der Dokumentarfilmer und Al-Dschasira-Korrespondent Josh Rushing sprach mit 20 Ärzten von den 65, die in der NYT namentlich genannt wurden. In seinem Film »Kids under Fire« (Kinder unter Beschuss) mit dem Untertitel »Eine Untersuchung über die Erschießung von Kindern durch israelische Soldaten« fasst er zusammen, was die Ärzte erlebt hatten. Das Ergebnis ist ein Film, der nur schwer zu ertragen ist.
Die Mediziner stimmen darin überein, dass täglich mehrere Fälle von Kindern mit Kopf- oder Herzschüssen in die Krankenhäuser eingeliefert wurden, in denen sie arbeiteten. Der Schluss ist unausweichlich: Kinder wurden und werden bis heute gezielt getötet, also kaltblütig ermordet. In der Mehrzahl waren es Kinder unter zehn Jahren. Die Bilder im Film dokumentieren die grausame Wahrheit. So erinnert sich die Ärztin Mimi Syed aus den USA an den 24. August, als Massen Verwundeter in ihr Krankenhaus eingeliefert wurden. Vor ihr auf dem Behandlungstisch lag das vierjährige Mädchen Mira mit einer Schusswunde am Kopf. Das CT zeigte ein Geschoss im Gehirn von Mira. Obwohl bei so schweren Verletzungen normalerweise nichts mehr unternommen wird, weil die Chancen auf Überleben gleich null sind, entschied sich Syed anders: Sie operierte Mira und hatte Erfolg. Das Mädchen überlebte.
Miras Vater Mohammed Al-Darini erzählt, was genau an jenem Tag passierte: Die Familie feierte den Geburtstag der älteren Schwester von Mira, als israelische »Killerdrohnen« das Feuer eröffneten. Eine schoss Mira direkt in den Kopf. Spezialisten bestätigen, dass derjenige, der eine solche Drohne steuert, klar erkennen kann, auf wen er schießt: in diesem Fall auf ein vierjähriges Kind. Die US-amerikanischen Ärzte sind sich auf Grundlage ihrer Erfahrungen einig, dass israelische Soldaten speziell auf Kinder zielen und dies ein »klares Muster« ist.
Laut Miranda Cleland von Defense for Children International werden wir nie genau wissen, wie viele Kinder in Gaza getötet wurden, und wir werden nie ihre Namen erfahren. Als Rushing sie fragt, wie es möglich sei, dass israelische Soldaten derartige Verbrechen begehen, hat sie eine schockierende Antwort: »Seit Jahren werden Kinder in der Westbank gezielt erschossen.« Und niemand reagiere darauf oder unternehme etwas dagegen. Ihre Folgerung: »Israelische Soldaten erschießen palästinensische Kinder, weil sie es wollen. Und ich glaube, sie tun es, weil sie es tun dürfen und niemand sie jemals gestoppt hat.« Damit begeht Israel seit Jahren schwere Kriegsverbrechen.
Der Film zeigt weiter, wie einige Ärzte im Januar 2025 beschließen, Abgeordnete im Kongress in Washington über ihre Erfahrungen und die Kindestötungen zu informieren. Doch eine Reaktion der Politiker selbst auf die schlimmsten Bilder bleibt aus. Eher gibt es Zweifel, ob diese echt sind: Und das bei Aufnahmen, die von den US-amerikanischen Ärzten selbst gemacht wurden. Letztlich zucken die Volksvertreter angesichts der konkreten Erfahrungen der Mediziner mit den Schultern und schweigen. Im Dezember ist Syed wieder in Gaza und besucht Mira. Das Mädchen kann inzwischen wieder reden und beginnt, aufrecht zu stehen und die ersten Schritte zu machen.
Dann kommt der nächste Schlag: Bei einem erneuten Angriff der Armee auf den Ort, an dem sich die Familie – wie alle in Gaza immer auf der Flucht – befindet, Mira erhält gerade physiotherapeutische Behandlung, wird die Mutter getroffen und schwer verletzt, ihr Bein muss amputiert werden. Doch sie gibt nicht auf und kümmert sich weiter um ihre Kinder, speziell um die Vierjährige. Mira muss baldmöglichst aus Gaza gebracht werden, um eine für sie überlebensnotwendige Behandlung in einem spezialisierten Krankenhaus zu bekommen. Syed schließt im Film mit den Worten: »Gaza ist der Friedhof der Menschenrechte.« Josh Rushing hat die verschiedenen Fälle, in denen Kinder gezielt unter Beschuss genommen und ermordet wurden, dem Pressebüro der israelischen Armee vorgelegt. Die Armee zog es vor, nicht zu antworten.
Dies ist der 34. »Brief aus Jerusalem« von Helga Baumgarten, emeritierte Professorin für Politik der Universität Birzeit
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