»Die Situation an den EU-Grenzen ist ein Skandal«
Interview: Yaro Allisat
Seit Jahren werden Kinder und Jugendliche an EU-Binnen- und Außengrenzen abgewiesen. Nun hält die Bundesregierung trotz einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin an diesen sogenannten Pushbacks fest. Was bedeutet das für minderjährige Betroffene?
Jasmin Asaad: Begleitete und unbegleitete Kinder und Jugendliche werden ohne Prüfung ihrer Schutzbedürftigkeit zurückgewiesen. In der Folge drohen sogenannte Pushbacks über Polen nach Belarus. Sie sind meist extrem gewaltvoll.
Livia Guiliani: Auch in Polen drohen schwerwiegende Rechtsverletzungen. Schutzsuchende werden regelmäßig inhaftiert, auch Kinder. Die Situation an den EU-Außengrenzen, insbesondere zwischen Belarus und Polen, ist ein menschenrechtlicher Skandal. Durch die Zurückweisungen legitimiert Deutschland diese Praxis.
J. A.: Was es außerdem bedeutet, sehen wir an dem konkreten Fall der 16jährigen Schutzsuchenden aus dem Urteil des Verwaltungsgerichts. Bild und andere rechte Medien haben sich auf den Fall gestürzt. Sie haben den Vornamen, den ersten Buchstaben des Nachnamens und ein Foto von der Betroffenen veröffentlicht. Das verstößt gegen das Presserecht und verletzt zutiefst ihre Persönlichkeitsrechte.
»Pro Asyl« hat die Betroffene bei ihrer Klage unterstützt und sieht sich nun mit einer üblen Diffamierungskampagne konfrontiert. Schutzsuchende und ihre Unterstützer werden angegriffen. Auch das ist eine Auswirkung dieser Politik.
Was muss aus Ihrer Sicht passieren, damit die Regierung von ihrer aktuellen Strategie abrückt?
J. A.: Wenn eine 16jährige mit kritischem Gesundheitszustand gleich dreimal an der Grenze zurückgewiesen wird, dann ist das kein Einzelfall, sondern ein systemisches Problem. Wer da von einem »Einzelfall« spricht, ignoriert die Realität an den Grenzen und verletzt grundlegende Prinzipien des Rechtsstaats.
L. G.: Die Bundesregierung muss Gerichtsurteile ernst nehmen und rechtsstaatlich handeln – im Unterschied zu Italien oder Ungarn, wo Gerichtsentscheidungen ignoriert werden. Die Genfer Flüchtlingskonvention gilt auch für Deutschland, und gerade mit Blick auf unsere Geschichte haben wir eine besondere Verantwortung, Schutzsuchende nicht abzuweisen. Der Koalitionspartner SPD darf diese Praxis nicht länger hinnehmen. Zivilgesellschaft, NGOs und Medien müssen weiter aufmerksam und laut bleiben. Es braucht öffentlichen Druck für einen politischen Kurswechsel.
In einer Mitteilung vom Donnerstag fordern Sie »verbindliche Schutzmechanismen an den Grenzen«. Wie genau könnten diese aussehen?
L. G.: Es gilt das Primat der Jugendhilfe in Deutschland. Das bedeutet, dass, wenn eine minderjährige Person an der Grenze auftaucht, die Jugendämter eingeschaltet werden und unbegleitete Minderjährige vorläufig in Obhut nehmen müssen.
Und ganz wichtig: Wenn eine Person keine Ausweisdokumente hat und sagt, sie sei minderjährig, muss auch das Jugendamt eingeschaltet werden. Das Alter einschätzen kann nicht die Bundespolizei. Dafür sind die Jugendämter zuständig und es gelten besondere Verfahrensrechte, weil es eine wichtige Weichenstellung für den weiteren Verlauf ist. Die Alterseinschätzung hat eine »Schlüsselfunktion«, ob jemand Kinderrechte wahrnehmen kann oder nicht.
Warum sollte diese Regierung daran ein Interesse haben?
L. G.: Auf dem Papier gäbe es durchaus Druckmittel: Die EU-Kommission könnte als Hüterin der Verträge ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten, wenn sie systematische Rechtsverstöße erkennt. Auch Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sind möglich. Allerdings dauern solche Verfahren oft Jahre.
J. A.: Unabhängig von möglichen Sanktionen sollte die Bundesregierung selbst ein fundamentales Interesse daran haben, nationale und internationale Verpflichtungen einzuhalten – insbesondere die Menschenrechte und das Kindeswohl. Rechtsstaat und Gewaltenteilung sind keine optionalen Prinzipien, sondern das Fundament unserer Demokratie.
Livia Giuliani ist Volljuristin und Referentin beim Bundesfachverband Minderjährigkeit und Flucht (BuMF). Jasmin Asaad ist Politikwissenschaftlerin und Referentin beim BuMF
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