Lobby will Armut verankern
Von Gudrun Giese
Einmischung durch die Politik in die Diskussion über den künftigen Mindestlohn verbittet sich der Handelsverband Deutschland (HDE), mischt sich aber selbst mit der Empfehlung einer »Nullrunde« ein. Die Gewerkschaft Verdi hält dagegen. Zuständig für die Festlegung des zur Zeit bei 12,82 Euro pro Stunde liegenden Mindestlohns ist eine Kommission aus Beschäftigten- und Unternehmensvertretern. Berechnungen im Vorfeld der anstehenden Entscheidung über die Erhöhung der Lohnuntergrenze laufen auf etwa 15 Euro hinaus, da dieser Wert 60 Prozent des Medianlohns aller Vollzeitbeschäftigten entspräche. Die Berechnungsgrundlage ist in der Europäischen Mindestlohnrichtlinie festgelegt, die bisher von der deutschen Kommission ignoriert wurde. Nach einer Verständigung beider Lager im Januar kündigte sie an, sie in diesem Jahr zu berücksichtigen. Selbst die aus CDU/CSU und SPD bestehende Bundesregierung hatte sich in ihrer Koalitionsvereinbarung unverbindlich zu einem Mindestlohn von 15 Euro bekannt.
Grund genug für den mächtigen HDE, nun mit markigen Worten vor den Folgen einer Erhöhung des Mindestlohns zu warnen. Eine Befragung von rund 550 Handelsunternehmen verschiedener Größe habe ergeben, dass zwei Drittel von ihnen mit Stellenabbau kalkulieren, wenn es dazu kommt, heißt es in einer Mitteilung des Verbandes vom Donnerstag. Der Einzelhandel könne angesichts enger Margen und geringer Rücklagen keine weiteren Kostensteigerungen verkraften, behauptete HDE-Präsident Alexander von Preen – obwohl er wissen dürfte, dass die Beschäftigten im Einzelhandel weder auf das eine noch das andere Einfluss haben. Doch hat der oberste Handelslobbyist, der sich »eine zunehmende Politisierung des Mindestlohns« durch die neue Bundesregierung verbittet, überhaupt kein Problem, sich selbst in die Arbeit der Mindestlohnkommission einzumischen: »Wir brauchen deshalb (wegen der angeblich schwierigen Bedingungen in der Branche, jW) eine Aussetzung der Mindestlohnanpassung, also eine Nullrunde.« Und er barmte weiter, dass einer Erhöhung der untersten Löhne Forderungen der Beschäftigten in den darüberliegenden Entgeltgruppen nach Gehaltssteigerungen folgen würden, damit der Abstand zum Mindestlohn gewahrt bleibe.
Auf die Einlassungen des HDE reagierte am selben Tag das für den Handel zuständige Verdi-Vorstandsmitglied Silke Zimmer mit scharfer Kritik: »Der HDE will die Beschäftigten im Handel nicht fair entlohnen«, stellte sie laut dpa fest. »Anders kann man die Behauptungen, mit denen der HDE die 15 Euro Mindestlohn verhindern will, nicht verstehen.« Die Beschäftigten der Branche seien auf Lohnsteigerungen angesichts der erheblichen Preissteigerungen bei Mieten und Lebenshaltungskosten dringend angewiesen. Viele kämen mit ihrem Entgelt kaum über die Runden. »90 Prozent der mehr als drei Millionen Einzelhandelsbeschäftigten sind akut von Altersarmut bedroht«, so Zimmer weiter. Wegen der schlechten Bezahlung suchten sich immer mehr Mitarbeiter dieser Branche alternative Jobs. Besonders verstörend seien die Aussagen aus dem Handelsverband auch, weil eine wachsende Zahl an Mitgliedsunternehmen ihre Beschäftigten längst nicht mehr nach Tarifverträgen entlohnen, was der HDE mit seinem Angebot, Mitglied »ohne Tarifbindung« zu sein, aktiv begünstige. »Damit verabschieden sich viele Unternehmen von fairen Löhnen im Handel – mit Zustimmung ihres Verbandes. Auch deshalb ist eine deutliche Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns nötig«, erklärte Zimmer.
In jeder Tarifrunde der vergangenen Jahre hat sich Verdi dafür starkgemacht, die Tarifverträge des Handels für allgemeinverbindlich erklären zu lassen, was bisher stets am – wen wundert’s – Widerstand der Unternehmensverbände in der Branche gescheitert ist. Seinen Hinweis, dass das »Vertrauen der Sozialpartner in die Laufzeit der mit der Gewerkschaft ausverhandelten Entgelttarifverträge prägend für die Tarifautonomie« sei, sollte HDE-Präsident von Preen sich hinter den eigenen Spiegel stecken.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Manfred G. aus Manni Guerth (18. Juni 2025 um 18:54 Uhr)Ich sag, wie es ist. Das herrschende politische System des Neoliberalismus zerstört Kultur und Souveränität des Volkes. Alles, was in den letzten Jahrzehnten an negativer Veränderung in Deutschland geschehen ist – z. B. Verkauf von Krankenhäusern, verkauf der Infrastruktur wie Straßen und Nah- und Fernverkehr, verkauf von Berufsschulen, verkauf des Sozialversicherungssystems, entfernen von Gesetzen, die das Spekulantentum verhindern sollen, Bereicherung an den Steuergeldern, Spekulation mit Rentengeldern usw. – ist das Ergebnis neoliberaler Politik. Ich nenne es neoliberalen Faschismus in Echtzeit. Lohnkürzungen, Preiserhöhungen, Mieterhöhungen, Verbreitung von Armut, niedrige Renten usw. sind die Folgen der neoliberalen Politik der Herrschenden. Parteien und Politiker bereichern sich schamlos an den Steuergeldern. Das ist auch der Grund, warum sie kein Interesse haben, den Neoliberalismus zu beseitigen und eine Steuerpolitik zu entfalten, die dem Volkswohl dient und nicht dem Kapitalismus. Der Kapitalismus ist das politische System der Kapitalisten. Ihnen gehört der Kapitalismus, also sollen sie ihn auch finanzieren. Sie sollen ihn bezahlen und nicht die arbeitenden Menschen. Sie sollen die Steuern bezahlen, weil es ihr Staat ist. Wenn es nicht gelingt, eine revolutionäre Arbeiterorganisation aufzubauen mit dem Marxismus als Leitfaden, dann werden die Deutschen in naher Zukunft ihre Lebensmittel von der Müllkippe zusammensuchen müssen.
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