Normalisierter Rechtsbruch
Von Katharina Schoenes
Die Forderung nach Kontrollen und Zurückweisungen an den Grenzen ist spätestens seit dem Frühjahr 2023 eines der bestimmenden Themen in der deutschen Debatte über Flucht und Migration. Seit dem Amtsantritt der Merz-Regierung Anfang Mai ist diese Frage erneut ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung gerückt. Friedrich Merz (CDU) hatte im Wahlkampf angekündigt, ab Tag eins seiner Amtszeit als Bundeskanzler die Grenzen für Asylsuchende dichtmachen zu wollen. Der neue Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) hat dem nun Taten folgen lassen. Seit dem 7. Mai wurden dreitausend Bundespolizisten zusätzlich an die Grenzen verlegt, um Kontrollen zu intensivieren. Neu ist außerdem, dass Menschen, die an der Grenze einen Asylantrag stellen möchten, ab sofort mit Ansage in die Nachbarländer zurückgeschickt werden. Zurückweisungen von Geflüchteten gab es auch schon unter Dobrindts Vorgängerin Nancy Faeser (SPD), darauf deuten zumindest Zahlen des Bundesinnenministeriums (BMI) sowie Berichte Betroffener hin. Allerdings hatte die Ampelregierung dieses Vorgehen nicht offiziell bestätigt.
Die politisch-mediale Debatte dreht sich aktuell um die Frage, wie sich die neue Zurückweisungspraxis rechtlich begründen lässt. Denn bisher herrschte unter Juristinnen und Juristen weitgehende Einigkeit, dass pauschale Zurückweisungen von Asylsuchenden gegen EU-Recht verstoßen. Auch das BMI vertrat bisher – etwa in Antworten auf parlamentarische Anfragen – die Auffassung, dass Zurückweisungen von Geflüchteten nur in Ausnahmefällen in Frage kämen. Die EU-Dublin-Verordnung regelt, dass ein Dublin-Verfahren durchgeführt werden muss, um zu bestimmen, welcher Mitgliedstaat für ein Asylverfahren zuständig ist. Diese Entscheidung kann die Bundespolizei nicht an der Grenze treffen; sie fällt vielmehr in den Aufgabenbereich des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Hinzu kommt das in verschiedenen menschenrechtlichen Verträgen verankerte Verbot des »Refoulement«. Danach darf keine Person in ein Land zurückgeschoben werden, in dem ihr Verfolgung oder unmenschliche Behandlung drohen. Dabei muss auch das Risiko von Kettenabschiebungen geprüft werden, was die Kompetenzen der Bundespolizei ebenfalls übersteigt.
Die Unvereinbarkeit mit EU- und internationalem Recht war der Grund, warum Zurückweisungen von Geflüchteten bislang lediglich in einem rechtlichen Graubereich stattfanden. Es wird vermutet, dass die Bundespolizei unter der Ampelregierung regelmäßig Asylgesuche »überhörte«, um die Betreffenden abweisen zu können. Durch journalistische Recherchen wurde bekannt, dass die Bundespolizei bei der Einreisebefragung ein Formular verwendet, das unterschiedliche Reisegründe beinhaltet – etwa Arbeitsaufnahme, Verwandtenbesuch –, nicht aber das Motiv, einen Asylantrag zu stellen. Es ist denkbar, dass Asylsuchende durch dieses Formular bewusst dazu verleitet wurden, einen anderen Einreisegrund als »Asyl« anzugeben, was letztlich ihrer Zurückweisung Vorschub leistete.¹ Von solchen Pushbacks waren 2024 rund 40.000 Personen betroffen, viele aus wichtigen Asylherkunftsländern wie Syrien, Türkei und Afghanistan. Diese Zahl könnte nun noch steigen, wenn die Bundespolizei verstärkt kontrolliert und Menschen nicht länger nur unter der Hand, sondern ganz offen in die Nachbarländer zurückweist.
Nationale Notlage?
Zur Rechtsgrundlage, auf die sich die Merz-Regierung dabei stützt, gibt es einige Unklarheit. Im vergangenen Herbst hatte Merz als Oppositionspolitiker gefordert, die Bundesregierung müsse eine nationale Notlage nach Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ausrufen. Das ermögliche es, EU-Recht zu ignorieren und nationales Recht anzuwenden – in diesem Fall Paragraph 18 Absatz 2 des Asylgesetzes, der Zurückweisungen an der Grenze erlaubt, aber seit Ende der 1990er Jahre von EU-Recht überlagert wird. Allerdings gibt es keinerlei Indizien dafür, dass eine solche Notlage vorliegen könnte. Die Zahl der ankommenden Asylsuchenden ist in den letzten Monaten zurückgegangen, die Aufnahmeeinrichtungen einiger Bundesländer stehen halb leer. Hinzu kommt, dass der Europäische Gerichtshof bisher alle Versuche, über die Ausrufung eines Notstands Rechte von Asylsuchenden auszuhebeln, gestoppt hat. Versucht hatte das in der Vergangenheit unter anderem die ungarische Regierung.
Aktuell ist von einer nationalen Notlage denn auch nicht mehr die Rede. Dobrindt sprach zwar am 21. Mai im Bundestag davon, dass Paragraph 18 Absatz 2 des Asylgesetzes in Verbindung mit Artikel 72 AEUV gelte – eine nationale Notlage gebe es aber nicht. Er erklärte nebulös: Man praktiziere die »Anwendung von nationalem Recht, eingebettet in europäisches Recht«.² Eine Woche zuvor hatten Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) und Kanzleramtschef Thorsten Frei (CDU) sich dagegen explizit nicht auf Artikel 72 AEUV berufen, und Merz versicherte bei seinem Antrittsbesuch in Brüssel, die Bundesregierung halte sich an europäisches Recht. Was ist davon zu halten? Merz und Dobrindt scheinen darauf zu spekulieren, dass es einige Zeit in Anspruch nehmen wird, bis Betroffene der Zurückweisungen gegen das erlebte Unrecht klagen. Bis eine klare gerichtliche Verurteilung dieser Polizeipraxis vorliegt, könnten eine Kettenreaktion und damit verbunden ein Abschreckungseffekt erzielt werden, wenn auch andere EU-Staaten in Reaktion auf das deutsche Vorgehen an ihren Grenzen verstärkt Asylsuchende abweisen. Ein solches Szenario hatte der konservative Juraprofessor Daniel Thym, der die Union regelmäßig in migrationspolitischen Fragen berät, schon vor einigen Monaten skizziert.³ Die zugrunde liegende Strategie lautet: Geltendes Recht wird so lange bewusst übergangen, bis die Gerichte dem gegebenenfalls Einhalt gebieten.
Das Berliner Verwaltungsgericht hat nun am 1. Juni im Eilverfahren entschieden, dass die Zurückweisung von drei Asylsuchenden aus Somalia an der deutsch-polnischen Grenze am 9. Mai rechtswidrig war. Obwohl das Gericht deutlich machte, dass es Zurückweisungen in solchen Fällen generell für unzulässig hält, behauptet Dobrindt, es handele sich lediglich um Einzelfallentscheidungen und will an der Zurückweisungspraxis festhalten – mit Unterstützung von Merz. Juristen, Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl und die Linkspartei werfen der Bundesregierung deshalb »offenen Rechtsbruch« und eine Abkehr von rechtsstaatlichen Prinzipien vor. Dabei muss daran erinnert werden, dass die stationären Grenzkontrollen, die die Voraussetzung dafür sind, überhaupt Menschen an der Grenze zurückweisen zu können, selbst gegen EU-Recht verstoßen – und dennoch seit Jahren stattfinden. Sie dürfen eigentlich nur ausnahmsweise und vorübergehend wiedereingeführt werden; in der BRD wie auch in vielen anderen EU-Staaten sind sie aber längst zur Dauereinrichtung geworden. Seit 2015 wird an der bayerisch-österreichischen Grenze kontrolliert, im Oktober 2023 kamen die Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz hinzu. Seit September 2024 finden die Kontrollen an allen deutschen Grenzen statt. Doch solange die EU-Kommission als »Hüterin« der Verträge nicht einschreitet und die geflüchtetenfeindliche Politik an den Binnengrenzen stillschweigend mitträgt, wird sich daran nichts ändern. Dagegen hilft auch ein mittlerweile rechtskräftiges Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs nicht, mit dem dieser die wiederholten Verlängerungen der Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze Mitte März für rechtswidrig erklärte.⁴ Wenn die Bundesregierung aus der Entscheidung keine Konsequenzen zieht und es keinen politischen Druck gibt, der dies erzwingen könnte, geht das Urteil ins Leere.
Renationalisierung
Heute sind die Grenzkontrollen normalisiert und erscheinen vielen wie eine Selbstverständlichkeit. Mitunter beschweren sich Pendlerinnen und Pendler sowie lokale Unternehmer, etwa Handwerksbetriebe, die grenzüberschreitend tätig sind, über Staus und damit verbundene Mehrkosten und Verzögerungen. Auch Kapitalverbände warnen punktuell, die Bundespolizei solle die Kontrollen »mit Augenmaß« durchführen, um »die Wirtschaft« nicht übermäßig zu belasten. Aber die Ansicht, dass es wünschenswert und sinnvoll sei, die innereuropäischen Grenzen engmaschig zu kontrollieren, um »irreguläre Migration« zurückzudrängen, wird von breiten Teilen der Öffentlichkeit unterstützt und kaum mehr grundsätzlich hinterfragt.
Das war nicht immer so: Das 1995 zunächst von sieben EU-Ländern in Kraft gesetzte Schengener Abkommen sieht einen Verzicht auf Binnengrenzkontrollen bei gleichzeitiger gemeinsamer Kontrolle der EU-Außengrenzen vor. Später traten dem Abkommen etliche weitere EU-Staaten sowie Nicht-EU-Mitglieder wie etwa die Schweiz und Norwegen bei. Bis Mitte der 2010er Jahre gab es Binnengrenzkontrollen innerhalb des Schengen-Raums tatsächlich nur in Ausnahmefällen. Die Mitgliedstaaten beschränkten sich darauf, in Grenznähe und an Verkehrsknotenpunkten sogenannte verdachtsunabhängige Kontrollen durchzuführen – ebenfalls mit dem Ziel, Menschen ohne das passende Visum aufzugreifen.
Erst als das europäische Grenzregime infolge der großen Fluchtbewegungen des Jahres 2015 vorübergehend brüchig wurde, reagierten zahlreiche Regierungen mit der Wiedereinführung stationärer Grenzkontrollen, um die Weiterflucht von Menschen aus der europäischen Peripherie ins Zentrum zu stoppen. Die reaktionäre Bearbeitung des »Sommers der Migration« hat zu Prozessen der Renationalisierung des Schengen-Raums geführt, mit der Folge, dass die innereuropäischen Grenzübergänge sich in Form und Funktion wieder »klassischen« Grenzen annähern.
Während heute fast alle im Bundestag vertretenen Parteien von SPD bis AfD Grenzkontrollen gutheißen, war deren Wiedereinführung zu Beginn hochumstritten. Als 2015/16 erstmals Forderungen nach längerfristigen Kontrollen an den innereuropäischen Grenzen erhoben wurden, reagierte die EU-Kommission alarmiert. Sie warnte vor erheblichen ökonomischen, politischen und sozialen Kosten. Es drohe eine Belastung von bis zu 18 Milliarden Euro pro Jahr, besonders seien davon der Güterverkehr sowie 1,7 Millionen Beschäftigte, die täglich innerhalb der EU über die Grenze pendelten, betroffen. Auch beim Tourismus müsse mit Einbrüchen gerechnet werden. Die neoliberale Bertelsmann-Stiftung und das kapitalnahe Münchner Ifo-Institut veröffentlichten 2016 Studien, die ähnlich negative Auswirkungen der Grenzkontrollen prognostizierten.
Alarmierte Kapitalverbände
Wesentliche Kapitalverbände meldeten sich im Februar 2016 mit einer gemeinsamen Stellungnahme gegen dauerhafte Grenzkontrollen zu Wort: »Eine Beschädigung oder gar ein Scheitern des Schengen-Raums wäre ein schwerwiegender Rückschlag für die EU und ihre Bürger«, erklärten der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH), der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) und die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA). Der DIHK-Präsident warnte vor einem »sehr hohen Wohlstandsverlust in Deutschland« für den Fall, dass in Europa wieder Grenzen errichtet würden. Der BDI-Chef ergänzte: »Europa ist nicht das Problem, Europa ist die Lösung.«
Auch die CDU – nicht nur die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel – teilte mehrheitlich diese Position: Deutschland dürfe »keine nationalen Alleingänge an den Grenzen vollziehen«, um den europäischen Binnenmarkt nicht zu gefährden, auf den die BRD mit ihrer starken Exportwirtschaft entscheidend angewiesen sei. Der Binnenmarkt, der »eine der wichtigsten europäischen Errungenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg und wirtschaftliche Grundlage für unseren Wohlstand und Millionen sicherer Arbeitsplätze« sei, stehe »bei nationalen Alleingängen in der Migrationspolitik jetzt auf dem Spiel«, heißt es in einem FAQ der Partei aus dem Jahr 2015, das noch bis vor einigen Monaten über das Archiv der CDU-Homepage abrufbar war. Die exemplarischen Zitate zeigen, dass die Forderung nach dauerhaften Grenzkontrollen 2015/16 eine Minderheitenposition war, die lediglich von AfD und CSU erhoben wurde. Die mehrheitlich von Kapitalverbänden, bürgerlichen Parteien und Medien geteilte Auffassung brachte der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker auf den Punkt: Grenzkontrollen schaden Schengen: »Wer Schengen killt, trägt den Binnenmarkt zu Grabe«.
Zwei Jahre später kochte der Konflikt um Grenzkontrollen und Zurückweisungen erneut hoch. Ein diesbezüglicher Streit zwischen der damaligen Bundeskanzlerin Merkel und dem damaligen Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) führte im Sommer 2018 fast zum Auseinanderbrechen der Koalition. Seehofer arbeitete daran, sich mit seinem »Migrationsmasterplan«, der neben anderen Maßnahmen die Zurückweisung von Asylsuchenden an den Grenzen beinhaltete, als Hardliner zu profilieren. Merkel hielt dagegen an ihrer Auffassung fest, dass die Abwehr von Flüchtenden europäisch »gelöst« werden müsse: Nicht, indem man die Betreffenden an den Binnengrenzen hin- und herschiebt und auf diese Weise die »europäischen Nachbarn« verärgert, sondern mit Hilfe einer Vorverlagerung des Migrationsregimes weit über die europäischen Grenzen hinaus – in der Absicht, die Flüchtenden in Lagern festzusetzen, lange bevor sie europäischen Boden erreichen.
Letztlich wurde in der Koalition ein »Kompromiss« gefunden: Seehofer durfte bilaterale Zurückweisungsabkommen mit Griechenland und Spanien abschließen, die bei Vorliegen eines Eurodac-Treffers⁵ direkte Zurückweisungen von Geflüchteten in diese Länder ermöglichten. Allerdings erlangte diese Regelung in der Praxis zahlenmäßig so gut wie keine Bedeutung; zudem wurden einzelne Zurückweisungen, die doch stattfanden, im nachhinein für rechtswidrig erklärt und rückgängig gemacht. Die stationären Grenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze wurden als bayerischer Sonderweg aufrechterhalten; dauerhafte Kontrollen an allen Landgrenzen, wie sie heute stattfinden, waren 2018 dagegen undenkbar.
Was ist heute anders, warum regt sich gegen die Grenzkontrollen kaum noch grundsätzlicher Widerspruch? Lässt sich daraus ableiten, dass die Bundesregierung und entscheidende Teile des deutschen Kapitals das Interesse am »europäischen Projekt« verloren haben und statt dessen vermehrt auf nationale Märkte setzen? Wohl kaum – für einen solchen Strategiewechsel gibt es keinerlei Anzeichen. Vielmehr deutet einiges darauf hin, dass die negativen Folgen der Grenzkontrollen für den EU-Binnenmarkt 2015/16 überschätzt wurden und man seither Wege gefunden hat, diese so auszugestalten, dass der ökonomische Schaden gering bleibt.
Offenbar wurde eine Praxis entwickelt, die beinhaltet, dass der große Güterverkehr relativ reibungslos die Grenzen passieren kann, auch wenn die Bundespolizei dort stationäre Kontrollen durchführt. Die Belieferung der großen Industriestandorte mit Rohstoffen und Vorprodukten wird somit nur geringfügig behindert. Die ehemalige Bundesinnenministerin Nancy Faeser sprach von »smarten Kontrollen«. Entsprechend zeigte sich Frank Huster, Sprecher des Bundesverbands Spedition und Logistik, im September 2024 in einem Interview im Deutschlandfunk angesichts der bevorstehenden Ausweitung der Grenzkontrollen auf alle Landgrenzen gelassen. Er berichtete, sein Verband sei im Vorfeld mit dem Bundesinnenministerium und der Bundespolizei in Kontakt gewesen. Man greife auf während der Fußballeuropameisterschaft gemachte Erfahrungen zurück, als Lastkraftwagen eine Vorrangregelung hatten, sowie auf den Extremfall Coronapandemie, als bei faktisch geschlossenen Grenzen lange Staus entstanden. Damals empfahl die EU-Kommission eine »green lanes policy«, also einen Vorrang für den Güterverkehr. Huster gab sich daher zuversichtlich, dass die Bundespolizei auch künftig »mit Maß und Mitte« kontrolliere.
Kleintransporter im FokusVon dieser Bevorzugung profitieren indes nicht alle. Beobachtungen an der Grenze zeigen, dass die Kontrollen der Bundespolizei sich in besonderer Weise gegen Kleintransporter richten, die verdächtigt werden, »Schleuserfahrzeuge« zu sein.⁶ Darunter leiden Grenzpendler, die aufgrund von Staus deutlich länger zu ihrem Arbeitsplatz brauchen. Nachteile entstehen zudem für Betriebe, die diesseits und jenseits der Grenze Dienstleistungen anbieten oder grenzüberschreitend auf Materiallieferungen und Arbeitskräfte angewiesen sind, etwa im regionalen Einzelhandel, in der Pflege oder in der Gastronomie. In den betroffenen Grenzregionen finden sich in Lokalmedien regelmäßig Beiträge, die entsprechende Beschwerden aufgreifen und Kritik an den Grenzkontrollen formulieren.
Die Belange von Kleinbetrieben und Grenzpendlerinnen dürften für die Meinungsbildung der Bundesregierung aber weniger ausschlaggebend sein als die des Exportkapitals. Berichte über die Situation an den Grenzen seit Antritt der Merz-Regierung deuten darauf hin, dass die beschriebene selektive Kontrollpraxis im Großen und Ganzen beibehalten wird. Zwischen dem 8. Mai und dem 1. Juni wurden rund 2.600 Personen an deutschen Grenzen zurückgewiesen, das entspricht in etwa der bisherigen Größenordnung. Pro Asyl informierte nach einem Besuch an der deutsch-polnischen Grenze darüber, dass die Bundespolizei nicht flächendeckend kontrolliere, sondern im Sinne eines »Racial Profiling« gezielt Personen herausgreife, die nicht in ihr Bild eines Deutschen oder einer Europäerin passen.
Zu berücksichtigen ist darüber hinaus die Erfahrung der Coronapandemie. 2020/21 kam es innerhalb der EU nicht nur zu Grenzkontrollen, sondern zu weitgehenden Grenzschließungen, außerdem zur Unterbrechung globaler Lieferketten durch harte Lockdowns in anderen Weltregionen. Auch andere Entwicklungen, etwa der Brexit, die erste Trump-Regierung und die Blockade des Suezkanals infolge einer Havarie im Frühjahr 2021 haben in den letzten Jahren Prozesse in Gang gesetzt, die beinhalten, dass in der Tendenz wieder mehr Lagerkapazitäten vorgehalten werden, während Just-in-Time-Lieferungen zurückgehen. Es ist denkbar, dass zeitlich befristete »smarte« Kontrollen vor diesem Hintergrund aus Kapitalsicht schlicht ihren Schrecken verloren haben.
Kampf um Neuordnung
Dennoch bleibt die Frage nach den Gründen der beschriebenen Veränderungen: Wie lässt sich die rasante Rechtsentwicklung fast des gesamten politischen Spektrums beim Thema Grenzkontrollen erklären? Folgt man dem Journalisten Stephan Kaufmann, liegen die materiellen Grundlagen dieses Rechtstrends in Verschiebungen auf dem Weltmarkt. Der Aufstieg Chinas, der relative Bedeutungsverlust des Westens, aber auch Veränderungen der technologisch-industriellen Konkurrenzverhältnisse durch Klimawandel und -schutz, durch Digitalisierung und künstliche Intelligenz hätten einen Kampf um die Neuordnung der globalen wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnisse befeuert. Das bedroht angestammte Positionen auf dem Weltmarkt. Besonders die etablierten Industrienationen fürchten angesichts dieser verschärften Konkurrenz um ihre Führungspositionen. Unter Rechten wie Mitte-Parteien herrsche Einigkeit, dass die Quelle dieser Bedrohung im Ausland liege, das »angestammte Märkte« angreife. Während früher das Motto gegolten habe, vom Weltmarkt würden »irgendwie alle profitieren«, gerate heute alles unter Verdacht, die »Heimat« zum Vorteil des Auslands zu schwächen, etwa Welthandelsregeln, EU-Vorgaben oder auch Migration. Gegen diese äußeren Bedrohungen radikalisierten die Staaten ihr Programm der Standortsicherung: Kampf, Leistung, Verzicht bis hin zu offener Gewalt und Krieg.⁷
In diese autoritär-nationalistische Formierung fügen sich die Grenzkontrollen bestens ein. Denn wie Migrationsforscherinnen betonen, handelt es sich bei »der Grenze« um einen Ort der Ideologieproduktion, der besonders gut dazu geeignet ist, die Rückgewinnung »nationaler Souveränität« gegen (vermeintliche) äußere Gefahren zu inszenieren.⁸
Anmerkungen
¹ Vgl. Spiegel,12.9.2024
² Regierungsbefragung am 21.5.2025, Plenarprotokoll 21/6, S. 392
³ Vgl. https://verfassungsblog.de/nun-also-doch-zuruckweisungen-von-asylbewerbern-aufgrund-einer-notlage/
⁵ Mithilfe des Eurodac-Systems werden Fingerabdrücke von Asylsuchenden EU-weit erhoben, zentral gespeichert und abgeglichen. So soll verhindert werden, dass Geflüchtete in mehreren EU-Staaten Asylanträge stellen.
⁶ Vgl. Peter Birke u. Janika Kuge: »Zwischen Migrationsabwehr und Arbeitskräftemangel. Anmerkungen zur aktuellen Debatte«, Sozial.Geschichte Online 38 (2025), S. 10f.
⁷ Vgl. »Aufstieg der Rechten: Fragmentierung statt Globalisierung«, ND, 15.11.2024
Katharina Schoenes ist Sozialwissenschaftlerin und schreibt regelmäßig zu migrationspolitischen Themen.
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