Wer Lenin liest, lebt gefährlich
Von Reinhard Lauterbach
Im Moskauer Mausoleum liegt er immer noch, der einbalsamierte Leichnam Lenins. Wie viele Lenindenkmäler, Leninstraßen usw. es in Russland gibt, kann auch die fleißige KI nur ungefähr angeben: Aber der Kartendienst Yandex – das russische Pendant zu Google Maps – nennt gut 5.000 Straßen, weitere etwa 3.000 nach Lenin benannte Plätze, Alleen und Gassen. Lenin sei der mit Abstand verbreitetste Namenspatron von Ortsbezeichnungen, antwortet die KI weiter. Die Zahl der Lenindenkmäler zwischen Smolensk und Wladiwostok wird auf etwa 6.000 geschätzt. Als Säulenheiliger ist der Revolutionär mit der charakteristischen Dreiviertelglatze also nach wie vor nicht wegzudenken aus dem russischen »Straßenbild«, auch wenn die Moskauer Leninbibliothek 2017 in Russische Nationalbibliothek rückbenannt wurde.
Das passt auch irgendwie, denn lesen soll man Lenin in Russland nicht mehr. Vor dem Zentralen Militärgericht des im Ural gelegenen Gebiets Jekaterinburg sind seit inzwischen zwei Jahren fünf Mitglieder eines marxistischen Studienzirkels aus Ufa angeklagt. Jetzt hat die Staatsanwaltschaft für sie Haftstrafen zwischen 20 und 24 Jahren in einer Hochsicherheitsstrafkolonie gefordert. Sie wirft ihnen »Extremismus« und »Terrorismus« sowie Pläne zum Umsturz der Regierung vor. Belegt wird der Vorwurf damit, dass die Angeklagten vor ihrer Inhaftierung im Jahre 2022 Lenins »Staat und Revolution« durchgearbeitet hätten. Aufgeflogen war die Gruppe durch einen Denunzianten, einen ehemaligen Kämpfer der Volksmiliz von Donezk, der der Anklage zufolge mitgehört hat, dass die Teilnehmer des Zirkels vorgehabt hätten, eine »instabile politische Situation abzuwarten«, um dann »die Macht zu übernehmen«. Wenn der Spitzel denn korrekt zugehört und nicht in seiner Denunziation maßlos übertrieben haben sollte, zeugt diese Absicht von einem geradezu grotesken Missverhältnis von eigenen Möglichkeiten der jungen Linken aus Baschkirien und den politischen Aufgaben. Doch dass man es wohl allenfalls mit einem »untauglichen Versuch« zu tun hat, hält die Anklage nicht ab, derlei drakonische Strafen zu verlangen. Ein langjähriges Urteil wird das Gericht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schließlich auch verhängen.
Denn in Wladimir Putins Russland ist Lenin heute der Mann, dessen Wirken nicht so sehr das Überleben Russlands nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg zu verdanken ist, sondern der vielmehr für seinen Zerfall nach 1991 verantwortlich gemacht wird. Putin spricht von der Ukraine gerne als der »Wladimir-Iljitsch-Lenin-Ukraine« und wirft dem Gründer der So-wjetunion vor, mit der Gewährung der Autonomie für das »kleinrussische« Randgebiet eine »Zeitbombe« unter das russische Imperium plaziert zu haben. Für den Vorwurf gibt es Anknüpfungstatsachen: Es war Lenin selbst, der nicht nur der Gründung einer ukrainischen Sowjetrepublik zustimmte, sondern der dieser Republik auch russischsprachige Gebiete von Charkow bis Donezk zuschlug. Ungefähr diejenigen, für deren Rückeroberung Russland seit knapp vier Jahren Krieg führt. Lenin verfügte diesen Anschluss an die Ukraine gegen den ausdrücklichen Willen der dort aus dem Bürgerkrieg hervorgegangenen Räterepubliken in den südrussischen Industriegebieten. Seine Erwartung: Diese Gebiete und ihre Bevölkerung sollten ein ethnisches und soziales Gegengewicht gegen den »kleinbürgerlichen ukrainischen Nationalismus« bilden, mit dem die Bolschewiki im Bürgerkrieg in Gestalt der »Ukrainischen Volksrepublik« ihre bösen Erfahrungen gemacht hatten. Dieses Kalkül ging auf – im Prinzip bis zum »Euromaidan«-Staatsstreich im Februar 2014.
Putins Kritik an den Entscheidungen Lenins um 1920 ignoriert also sowohl den realhistorischen Kontext, als auch die mit dieser Zuordnung verfolgte Absicht: Sie bestand nämlich gerade darin, Russland unter Bedingungen zusammenzuhalten, in denen der Separatismus in allen Randregionen des ehemaligen Imperiums aufgelebt war. Ganz Realpolitiker setzte Lenin darauf, dass der damalige ukrainische Nationalismus angesichts der kulturellen und sprachlichen Nähe für Russland integrierbar sei. Dass sich das ein knappes Jahrhundert später als Fehleinschätzung erwies, kann man Lenin nicht vorwerfen, sondern eher seinem Nachfolger Stalin. Der hatte 1939 der Versuchung nicht widerstehen können, die Westukraine an die ukrainische Sowjetrepublik anzugliedern. Und die war die Hochburg ebenjener Nationalisten, die jetzt in Kiew das Sagen haben. An Stalin aber hat man heute in Russland nichts Wesentliches auszusetzen: am allerwenigsten diesen strategischen Fehler.
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