Keine Gefangenen
Von Michael Merz
Als der kleine Ian Fraser Kilmister eines Tages beschloss, mit einem Gitarrenkoffer zur Schule zu gehen, in der Annahme, dann ständig »surrounded by chicks« zu sein, muss sich darin ein angehender Musikjournalist namens Frank Schäfer versteckt haben. Sich eifrig Notizen machend. Er muss hernach diesem Jungen auf seinem Weg aus den schlackegeschwärzten Rußecken Britanniens hinein in die Legenden des Rock ’n’ Roll ständig auf den Fersen gewesen sein. Bis zum letzten Motörhead-Konzert im Dezember 2015 in Berlin. Anders ist die umfassende Kenntnis kleinster Details aus Leben und Werk von Lemmy, wie sich sein Protagonist später nannte, nicht zu erklären. Mit furztrockener Leichtigkeit taucht der Autor ab in die Tiefen dessen Schaffens, wankt an Lemmys Seite über den Sunset Strip, dreht persönlich die Potis des Marshalls auf zehn und lässt sich dann in Reihe eins die Ohren durchpusten.
Die Motörhead-Serie des Kollegen Schäfer, die seit einer Weile an dieser Stelle erscheint, pausiert ausnahmsweise. Aus Gründen des Feierns (das Buch ist endlich erschienen), der Glückwünsche für seinen Helden (Lemmy hätte am 24. Dezember seinen 80. Geburtstag gefeiert) und nicht zuletzt des Gedenkens (am 28. vor zehn Jahren hat er die irdische Bühne verlassen). Über das Buch sei kurz gesagt: In bekannter Schäferscher Manier ist es weit mehr als eine Aneinanderreihung der Eckdaten, eher eine flockig formulierte Leistungsschau der Band. Hier findet sich jeder wieder, der Motörhead liebt. Erstaunlicherweise lässt sich auch als altgedienter Fan noch beträchtlich hinzulernen, das künstlerische Erbe ist reichhaltig und der Chronist hält mit seinem schier unerschöpflichen Wissen nicht hinterm Berg.
Frank Schäfer leckte Blut in einer »hochmotivierten Metal-Aktivisten-Zelle in unserem kleinen Heidedorf Leiferde bei Gifhorn«, zu jung für »Overkill« (1979), aber gerade rechtzeitig für »Ace of Spades« (1980). Endgültig Feuer fing er im Auge des Sturms: als er die Band live sah. Spätestens da hat der Autor seine Leserschaft gepackt, die Parallelen zum eigenen Erleben knüpfen die Bande. Mir etwa – zu jung für »Ace of Spades«, gerade noch aufgesprungen bei »Bastards« (1993) – erging es ähnlich: Der Orkan namens Motörhead zog 1995 durchs Vogtland, ich als Nachwuchsreporter mittendrin, schob Lemmys Flipper vom Laster ins Backstage, feierte dann bis in den Morgen mit Band und Gefolge in der örtlichen Metal-Kneipe. Der Gig selbst: eine ohrenbetäubende Offenbarung. Danach blieben Motörhead stete Wegbegleiter, bis zu jenem letzten Konzert, als Lemmys Stimme kaum noch zu hören war.
So kann die Lektüre für jeden Leser auch der persönlichen Rückschau dienen. In welcher Schaffensphase war gleich dieses oder jenes Konzert? Wodurch zeichnet sich jedes einzelne Album aus? Mit Verve und Sinn fürs Wesentliche widmet sich Schäfer prägnanten Textstellen, den Produktionsbedingungen, unterschiedlichen Qualitäten des abgelieferten Materials. Hier wird nicht Punkt für Punkt abgehakt, sondern der jeweils springende plastisch veranschaulicht.
Die Weihnachtszeit ist seit Mitte der 90er Motörhead-Zeit. Bis zuletzt sollte die Band vor den Feiertagen hierzulande einreiten – ihre Gigs machten »keine Gefangenen«, wie es Schäfer formulieren würde. Der Gegenklang zum Glöckchengebimmel ist nach wie vor unter Fans schwer angesagt, nur eben jetzt mit »Saufen für Lemmy«-Kneipenabenden und Tribute-Konzerten. Da kommt die Biographie gerade recht, gibt sie doch neuen Stoff zum Schlaumeiern. Dieses Jahr wird mit dem jüngst verstorbenen Ozzy Osbourne übrigens einem weiteren Rockrecken gedacht, etwa beim »In Memory of Lemmy«-Konzert am 27. Dezember im Berliner Kesselhaus. Es gilt, die Feste zu feiern, wie sie fallen.
Frank Schäfer: Motörhead. Eine Biographie. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2025, 261 Seiten, 22 Euro
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