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Aus: Ausgabe vom 17.11.2025, Seite 10 / Feuilleton
Ausstellung

Das Geheimnis der Pyramidenzellen

Lenin und ein schrecklicher Mediziner stehen im Mittelpunkt einer Ausstellung des Medizinhistorischen Museums Hamburg
Von Nick Brauns
Da geht’s lang: Chauffeurschule im georgischen Tiflis mit Lenin-Bildnis (vor 1930)
Die erste ihrer Art: Gedenkmarke für Lenin
Kriegsversehrt und vergessen: Lenins Krankenakte von Max Nonne

Die Namen lesen sich wie Hauptfiguren eines historischen Romans: ein todkranker russischer Revolutionsführer, ein ebenso eitler wie sadistischer deutschnationaler Nervenarzt, ein kunstsinniger jüdischer Bankierssohn und ein Wissenschaftler, der das materielle Geheimnis der Intelligenz zu ergründen hofft. Wladimir Iljitsch Lenin, der Hamburger Neurologe Max Nonne, der Kulturhistoriker Aby Warburg und der Berliner Hirnforscher Oskar Vogt stehen im Mittelpunkt der noch bis zum 21. Januar 2026 gezeigten Sonderausstellung »Lenins Tod. Eine Sektion« im Medizinhistorischen Museum Hamburg.

Im Ersten Weltkrieg war es Nonnes »Spezialität«, sogenannte Kriegszitterer, also schwer traumatisierte Soldaten, mittels Hypnose und Elektroschocks wieder kriegstüchtig zu machen. Ein Film von 1917 zeigt die Menschenexperimente mit den aus Lazaretten geholten kriegsbeschädigten Soldaten, die sich nackt ausziehen mussten, um das Gefühl der Hilflosigkeit und Abhängigkeit zu steigern. Die Ursache ihrer Erkrankung, die Nonne als »männliche Hysterie« bezeichnete, sei nicht etwa der Krieg, sondern liege in der Persönlichkeit der Patienten begründet. Unweigerlich fällt einem Brechts »Legende vom toten Soldaten« ein.

Kein Wunder, dass in der Novemberrevolution 1918 »Bolschewistenwagen« auf dem Klinikgelände in Eppendorf – wo sich das Medizinhistorische Museum befindet – Jagd auf den schrecklichen Mediziner machten, wie Assistenzärztin Rahel Plaut in ihrem Tagebuch vermerkte. Erwischt haben sie ihn nicht. Doch Ende 1923 folgte Nonne freiwillig dem Ruf der Bolschewiki nach Moskau. Die wollten ihn nicht mehr erschießen. Vielmehr hatte ein Emissär des Geheimdienstes aus der Sowjetischen Botschaft dem international als Koryphäe gehandelten Arzt eine Einladung an das Krankenbett Lenins überbracht.

Im Mittelpunkt des ersten Ausstellungsraumes liegt die von Nonne angelegte dicke, zerfledderte Krankenakte, an der auch Brandbomben und Löschwasser im Kriegsjahr 1943 Spuren hinterlassen haben. »Lenin, 53, Präsident d. Russ Republik i/Moskau« ist darauf vermerkt. Ein Gruppenbild aus der Akte zeigt ausländische Ärzte vor dem Kreml. Enthalten sind Notizen zur Sektion der Leiche Lenins im Januar 1924 – Nonne hatte seinen prominenten Privatpatienten an seinen Breslauer Kollegen Otfrid Foerster überwiesen, der bis nach dessen Tod in Russland blieb. Enthalten sind auch Briefe, mit denen Nonne dem in diffamierender Absicht gestreuten Verdacht entgegentrat, Lenin habe an der Geschlechtskrankheit Syphilis gelitten.

Ein Ölgemälde mit dem Porträt Nonnes wird in der Ausstellung auf der Seite liegend präsentiert. Nach Jahrzehnten eines noch auf die Nazis zurückgehenden »Nonne-Kults« ist der frühere Leiter der neurologischen Abteilung, der sich noch als Emeritus Anfang der 40er Jahre in einer Euthanasiedenkschrift für die Tötung »absolut unwerten Lebens«, etwa behinderter Kinder, stark machte, in Ungnade gefallen. Eine 1942 noch zu seinen Lebzeiten eingeweihte Max-Nonne-Straße in Hamburg wurde 2016 nach der Ärztin und Antifaschistin Ursula de Boor umbenannt. Zwar soll sich Nonne für einige unter den Nazis entlassene jüdische Kollegen verwendet haben. Doch sein glühender Antisemitismus ist nicht zuletzt durch die Erinnerung Rahel Plauts belegt. Sein früherer Mitschüler Aby Warburg, der nach einem Suizidversuch 1918 in eine Nervenheilanstalt kam, hatte deswegen Panik, in die Fänge Nonnes zu geraten. Der Kunsthistoriker Warburg war es dann, der die Bedeutung einer sowjetischen Gedenkbriefmarke – der weltweit ersten ihrer Art – nach Lenins Tod erkannte und in Korrespondenz mit dem sowjetischen Philatelistenverband versuchte, deren Schöpfer ausfindig zu machen. Die kleine Marke mit dem schwarz-weißen Konterfei Lenins bildet faktisch den Mittelpunkt des zweiten Teils der Ausstellung, die sich unter anderem mit dem Lenin-Kult nach dessen Tod befasst.

»Aus allen diesen Gründen lässt unser hirnanatomischer Befund Lenin als einen Assoziationsathleten erkennen«, vermerkte der Berliner Hirnforscher Oskar Vogt, der das Gehirn des Revolutionärs in Moskau in 35.000 hauchdünne Scheiben schneiden ließ, und in besonders großen Pyramidenzellen eine materialistische Erklärung für dessen Genialität zu erkennen glaubte. Assoziationsathleten sind auch die Ausstellungsmacher, die ausgehend von Lenins über 101 Jahre unentdeckt im Archiv des Universitätskrankenhauses Eppendorf schlummernden Krankenakte eine faszinierende Kollage aus Psychiatrie und Pathologie, Propaganda und Politik geschaffen haben.

Das letzte Wort in der kleinen Ausstellung hat Wladimir Putin. Im Fernsehinterview mit Tucker Carlson beschuldigte der russische Präsident Lenin kurz nach dessen nicht mehr offiziell begangenem 100. Todestag 2024, der »Erfinder« der Ukraine gewesen zu sein, mit der sich Russland nun im Krieg befindet.

»Lenins Tod. Eine Sektion – Psychiatrie, Pathologie und Propaganda«, Medizinhistorisches Museum Hamburg, bis 21. Januar 2026

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