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Aus: Ausgabe vom 20.11.2025, Seite 2 / Ausland
Armenien

Was sind die Gründe für die Verhaftungen?

In Armenien wurden zwei Podcaster inhaftiert. Die Regierung will politische Gegner loswerden, sagt Ruben Melikyan
Interview: Dominik Wetzel und Mawuena Martens, Jerewan
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Demonstration gegen ein Grenzabkommen mit Aserbaidschan in Armeniens Hauptstadt Jerewan (25.4.2024)

Am vergangenen Donnerstag sind zwei politische Podcaster verhaftet worden. Ihre Initiative vertritt sie juristisch. Was ist passiert?

Es ist das zweite Mal innerhalb von knapp zwei Jahren, dass die bekannten Podcaster des Formats »Imnemnimi«, Vazgen Saghatelyan und Narek Samsinyan, für zwei Monate in Haft kommen. Auch diesmal lautet die Begründung »Rowdytum«. Einen solchen Straftatbestand gab es schon zu Sowjetzeiten. Er wurde immer dann angewandt, wenn man kein anderes Vergehen feststellen konnte. So auch jetzt. Schließlich geht es nur um beleidigende Aussagen gegenüber Parlamentspräsident Alen Simonyan, der sich zuvor auf ähnliche Weise gegenüber den beiden geäußert hatte. Er hat die Ermittlungen nicht nur in Gang gesetzt, sondern muss selbst kein Verfahren befürchten. Hinzu kommt: Es war nicht die Polizei, die die beiden verhaftet hat, sondern der Inlandsgeheimdienst. Der tatsächliche Grund des Zwists ist wohl ein »Imnemnimi«-Interview mit dem ehemaligen Präsidenten Armeniens, Sersch Sargsjan.

Auch zwei Journalisten wurden dabei vorübergehend festgenommen.

Richtig. Sie sind Mitarbeiter des Mediums Antifake.am, in dessen Büros die Podcasts aufgenommen worden waren. Ihnen wurde vorgeworfen, die Justiz zu behindern. Dass es in diesem Fall um mehr geht, zeigt die Tatsache, dass die Beamten jegliche technische Ausrüstung mitgenommen haben, also Computer, Kameras, sogar Mikrophone und Stative. Besonders für die Mitnahme letzterer gibt es keine rechtliche Basis.

In den vergangenen Monaten ist eine ganze Reihe von Personen, darunter Kleriker, Bürgermeister und Anwälte, verhaftet worden. Was sind die Gründe dafür?

Repressionen und politisch motivierte Verhaftungen hat es schon immer gegeben. Doch im Gegensatz zur jetzigen Regierung von Ministerpräsident Nikol Paschinjan waren vorherige vorsichtig. Wenn sie etwas falsch machten, wurden sie von einer Horde westlicher Medien und NGOs kritisiert. Jetzt, wo es eine Repressionswelle in nie dagewesenem Ausmaß gibt, bleibt es still. Die Wahrnehmung von vielen ist, dass der Westen Paschinjan als seinen Mann ansieht. Deshalb kann er machen, was er will.

Was ist das Neue an der aktuellen Repressionswelle?

Es gab in den vergangenen Jahren mehrere Wellen politischer Verfolgung. Der Unterschied ist, dass die Regierung proaktiv vorgeht und nicht mehr nur reagiert. Schon jetzt wird versucht, das Ergebnis der im kommenden Juni anstehenden Parlamentswahl zu beeinflussen, indem politische Gegner verhaftet werden. Paschinjan wird alles in seiner Macht Stehende tun, um zu gewinnen. Denn was er mit dem Land gemacht hat, hat noch kein Politiker vor ihm getan.

Wie meinen Sie das?

Ich meine das Problem Bergkarabach. Tausende Menschen sind in den vergangenen Jahren für dessen Verteidigung gestorben. Doch unter der aktuellen Regierung ist Bergkarabach einfach an Aserbaidschan abgetreten worden. Mindestens 20 Prozent des Landes werden das niemals akzeptieren. Baku erwartet auch, dass wir eine Verfassungsreform umsetzen und unter anderem die dortigen Bezugnahmen auf den Berg Ararat herausnehmen, doch der ist seit Jahrtausenden unser Symbol. Es scheint zwar so, als ginge es bei den Verhandlungen mit Aserbaidschan um Frieden. Doch es geht einzig darum, Paschinjan zu helfen, die Wahlen zu gewinnen. Danach wird er noch mehr Zugeständnisse an Baku machen.

Warum will Paschinjan die Wahlen um jeden Preis gewinnen?

Er und seine Regierung befürchten persönliche Konsequenzen. Nur eine weitere Regierungszeit kann sie davor schützen, nicht für ihre politischen Fehler belangt zu werden.

Wie steht es aktuell um die Zustimmung für Paschinjan?

Als Paschinjan durch den Machtwechsel 2018 an die Macht kam, lag sie bei 97 Prozent. Seither ist sie drastisch gefallen. Das mag auch daran liegen, dass sich im Land nicht wirklich etwas geändert hat. Es gibt weiterhin Oligarchen, die tun und lassen können, was sie wollen. Um von seiner Politik abzulenken, versucht der Premier, der ein guter Rhetoriker ist, auch, den Konflikt mit der Kirche als einen gegen vermeintliche Russland-Sympathisanten darzustellen. Doch sein eigentliches Problem ist, dass die Kirche lautstark den Verlust von kulturellem Erbe in Bergkarabach kritisiert.

Ruben Melikyan ist Anwalt der »Initiative der fünf Menschenrechtsverteidiger« Armeniens. Von 2016 bis 2018 war er Ombudsman für Menschenrechte der international nicht anerkannten Republik Arzach.

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