Gegründet 1947 Freitag, 31. Oktober 2025, Nr. 253
Die junge Welt wird von 3054 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 31.10.2025, Seite 9 / Schwerpunkt
Kaukasus

»Wir orientieren uns in Richtung Moskau«

Armenien: Der Krieg Aserbaidschans gegen Bergkarabach und Repression gegen die Opposition. Ein Gespräch mit Erjanik Ghasarjan
Von Mawuena Martens und Dominik Wetzel, Jerewan
9.jpg
Kommunisten in Armenien haben gelegentlich Ärger mit der Polizei. Vor einer russischen Militärbasis in Gjumri, 23. August 2025

Der Bürgermeister der zweitgrößten Stadt Armeniens, Gjumri, ist in der vergangenen Woche verhaftet und in zweimonatige Präventivhaft gesteckt worden. Ihre Partei unterstützt Wardan Ghukasjan. Warum?

Ghukasjan ist nicht Mitglied der kommunistischen Partei. Aber er hat in der Vergangenheit mit uns zusammengearbeitet und er vertritt ähnliche Positionen, beispielsweise in bezug auf die Zusammenarbeit mit Russland und die russische Militärbasis in Gjumri. Er ist nicht korrupt, wie behauptet wird, und wie man an den Protesten anlässlich seiner Verhaftung sieht, ist er beliebt. Er ist auch sehr religiös und gegen die Türkei. Deswegen haben wir ihn bei den Wahlen im März als Spitzenkandidat aufgestellt. Dabei hat er gegen die Partei Zivilvertrag von Premier Nikol Paschinjan gewonnen.

Worum geht es bei der Verhaftung, wenn nicht um Korruption?

Die jetzige Regierung geht gegen jeden vor, der ihr im Wege steht. Es gibt unterschiedliche Angaben, wie die Audioaufnahme zustande gekommen sein soll, die beweisen soll, dass Ghukasjan korrupt ist. Und sechs von sieben der Fälle, die ihm zu Last gelegt werden, fanden vor seiner Amtszeit als Bürgermeister statt. Zudem lautet eine zweite, erst am Wochenende öffentlich gewordene Anklage gegen ihn, dass er die Souveränität Armeniens aufgeben wolle. Dabei hatte er nur gefordert, dass Armenien mit Belarus und Russland eine Union gegen die türkische Gefahr eingeht. Das bedeutet nicht, dass Armenien seine Unabhängigkeit aufgibt. Zudem ist jüngst auch der oppositionelle Bürgermeister von Wanadsor für drei Jahren in Haft gekommen. In Parakar ist der oppositionelle Ortsvorsteher erschossen worden. Überall, wo die Opposition gewinnt, geht die Staatsmacht gegen sie vor. Der Fall von Gjumri ist wie die anderen also politisch motiviert.

In den vergangenen Monaten sind auch mehrere kirchliche Amtsträger verhaftet worden. Ihnen wird unter anderem die Vorbereitung eines Putsches vorgeworfen. Sie als Kommunisten unterstützten in dem Konflikt die armenisch apostolische Kirche, ist das nicht paradox?

Das mag so scheinen, ja. Auch dieser Konflikt hat politische Motive. Die Kirche bewahrt die Identität der Armenier und hält traditionelle Werte hoch. Und da wir gegen westliche Werte wie die Genderideologie sind, die Armenien und seine Familien aus dem Inneren heraus zerstören, unterstützen wir die Kirche und sind mehr denn je in der Opposition und gegen die aktuelle Regierung von Paschinjan, der eine offen prowestliche Politik macht. Wir orientieren uns in Richtung Moskau und sind gegen den freien Markt.

Wie kommt Ihr Programm bei der Bevölkerung an?

Früher waren wir populärer, und es war einfacher für uns. So haben wir 1996 mehr als eine Million Unterschriften für die Union mit Minsk und Moskau gesammelt. Das hat die damalige Regierung ignoriert. In den vergangenen Jahren ist unendlich viel Geld dafür aufgewendet worden, Russland zu diskreditieren. Die russlandfreundliche Orientierung der Armenier hat Tradition, schließlich haben wir in den Verträgen von Alexandropol und Lausanne als Ergebnis der Friedensverhandlungen mit der Türkei 1920 und bzw. 1923 nichts bekommen. Die Russen haben aber den Vormarsch der Türken gestoppt. Und es gibt einige europäische Werte, die unseren entgegenstehen. Zum Beispiel die der LGBTQ-Bewegung.

Welche Lehren haben Sie aus dem Kollaps der Sowjetunion gezogen?

Milliarden von US-Dollar wurden dafür ausgegeben, Dissidenten unter Künstlern und Schriftstellern zu finden und sie zu fördern. Außerdem hat der Westen von jeher versucht, ethnische Konflikte zu schüren, wie dem um Bergkarabach.

Auf der anderen Seite hat auch die Führung der UdSSR Fehler gemacht. Über Stalin mag jeder im nachhinein selbst urteilen, doch die Fehler begannen besonders mit Chruschtschow. Gorbatschow war ein Agent des Westens, der einen Nobelpreis dafür bekommen hat, die UdSSR zu zerstören. Auch dass in der Sowjetunion jegliche Art von Unternehmen verboten war, war sicherlich nicht gut. China hingegen ist den richtigen Weg gegangen. Der Westen hat zwar versucht, die Volksrepublik zu Fall zu bringen, doch das wurde auf dem Tiananmen-Platz 1989 gestoppt. Und das Modell, dass der Staat mindestens 51 Prozent Anteil an Unternehmen hat, funktioniert. Das chinesische Modell ist besser als das sowjetische und es ist den Menschen leichter vermittelbar. Das westliche hingegen steht nur dafür, Länder zu benutzen und nicht, ihre Entwicklung voranzutreiben.

Kritiker sagen, dass Russland die Armenier im Bergkarabach-Konflikt im Stich gelassen hat. Schließlich blieben die russischen Truppen vor Ort untätig, als Aserbaidschan angriff.

Die Regierung von Ministerpräsident Nikol Paschinjan ist antirussisch, und das war sie schon, seitdem sie mit der sogenannten samtenen Revolution 2018 an die Macht kam, also vor den Kriegen von 2020 und 2023. Alle am Krieg beteiligten Parteien waren sich einig, dass es ihn geben sollte, er war abgemacht. So hat der britische Bergbaukonzern Anglo Asian Mining kurz vor dem letzten Krieg eine Ausschreibung gewonnen. Seit diesem Jahr baut er in der Bergkarabach, das nun offiziell zu Aserbaidschan gehört, u. a. Kupfer und Gold ab. Und die Regierung von Armenien hat die Region als aserbaidschanisches Territorium anerkannt. In all den Jahren zuvor hatte sie Bergkarabach hingegen nicht als unabhängigen Staat anerkannt.

Die Russen waren Alliierte Armeniens, nicht Bergkarabachs. Sie haben Jerewan Waffen gesandt, doch da Armenien selbst nicht eingegriffen hat, um Bergkarabach zu verteidigen, konnten sie nicht wirklich helfen. Außerdem haben Jerewan und Baku alles dafür getan, die russischen Friedenstruppen zu diskreditieren. Schon im Oktober 2020 hatte Wladimir Putin einen Friedensplan vorgelegt, der zur Waffenstillstandsvereinbarung geführt hat. Doch weder Paschinjan noch Ilham Alijew, der Präsident Aserbaidschans waren eigentlich dafür. Auch nicht für die in Artikel 9 vereinbarte Stationierung von Russen im Sangesur-Korridor, über den Aserbaidschan Zugang zu seiner Exklave Nachitschewan hat.

Wenn es ein abgesprochener Krieg war, was war dann das Ziel?

Einerseits die Russen aus der Region zurückzudrängen, wie in der Ukraine. Und andererseits, den pantürkischen Traum wahr werden zu lassen, die Turkvölker in Zentralasien und dem Kaukasus mit der Türkei zu verbinden und die Region zu beherrschen, das beinhaltet auch die südarmenische Region Sjunik.

Im August haben Paschinjan und Alijew gemeinsam mit US-Präsident Donald Trump in Washington eine Absichtserklärung für einen Friedensvertrag unterzeichnet. Was halten Sie davon?

Wir sind Kommunisten und Internationalisten und wir sind für Frieden. Aber wir sind gegen die aktuelle »Friedenslogik«, in der der Unterlegene alles verliert und der Gewinner alles kriegt. Wenn ein Friedensvertrag mit Aserbaidschan unterzeichnet wird, sollte auch Armenien davon profitieren. Das ist gerade nicht Teil der Abmachung und daher kein Frieden.

Im kommenden Jahr stehen Parlamentswahlen an. Was erwarten Sie?

Die Gewalt wird zunehmen. Wir sehen, dass die Regierung alle lokalen Wahlen verliert. Sogar in Jerewan konnte die Regierung nur mit Hilfe einer Fakeopposition gewinnen. Die Regierung wird versuchen, alle Gegner hinter Gitter zu bringen. Deswegen sollten sich alle Oppositionsparteien zusammenschließen. Der Westen wird zudem versuchen, auf die Wahlen Einfluss zu nehmen, ähnlich wie in Moldau. Auch hier können Bürger mit doppeltem Pass, also viele Diaspora-Armenier, wählen. Was auch besorgt: Paschinjan ist protürkisch. Was passiert, wenn er türkische Agrarprodukte ins Land lässt? Das wird unseren einheimischen Markt zerstören.

Hintergrund: Kommunistische Partei Armeniens

Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion und der Gründung der Republik Armenien im Jahr 1991 war die Kommunistische Partei Armeniens Regierungspartei, löste sich dann jedoch auf. In den darauffolgenden Jahren erlebte das Land eine Welle der Privatisierungen. Fabriken schlossen, Menschen verloren ihre Arbeit, Tausende wanderten aus. Wenig später sollte der erste Krieg um Bergkarabach über Jahre zu Knappheit und weiterer Misere im Land führen.

Spätestens mit dem Untergang der Sowjetunion verschwand auch eine programmatisch mehr oder weniger einheitliche kommunistische Weltbewegung. Inzwischen finden sich hinter dem Etikett Kommunistische Partei die unterschiedlichsten Auffassungen, und der jeweilige marxistische Gehalt muss nicht selten mit der Lupe gesucht werden. Die 1991 gegründete Armenische Kommunistische Partei versteht sich als Erbin der einstigen Sowjetregierung in Jerewan. Gesellschaftspolitisch, gelinde gesagt, konservativ, lehnt sie die LGBTQ-Bewegung ab, wirtschaftspolitisch gelten Privateigentum und kontrollierte Marktbeziehungen als geeigneter Weg, außenpolitisch ist die Partei auf das stärkste an der gegenwärtigen Regierung in Moskau orientiert.

In dem etwa drei Millionen Einwohner zählenden Land hat die Partei circa 8.000 Mitglieder, ein Teil davon lebt im Ausland. Während sie bei den Parlamentswahlen 1995 und 1999 noch rund zwölf Prozent der Stimmen bekam, sank der Anteil 2003 auf rund zwei Prozent ab. Seither konnte sie keine Parlamentsmandate mehr erringen. (jW)

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • Der Latschin-Korridor ist die einzige Landverbindung zwischen Ar...
    20.04.2023

    Paschinjan kapituliert vor Baku

    Armeniens Premier: Anerkennung von 91er Grenze Aserbaidschans möglich – inklusive Berg-Karabach
  • Diese unbedingt prowestlichen Leute drücken aus, wohin sie auf k...
    23.04.2021

    Im Gärfass

    Georgien, Armenien und Aserbaidschan entwickeln sich nicht so, wie es sich NATO und EU wünschen. Zur Lage im Südkaukasus (Teil 2 und Schluss)
  • Mit der militärischen Expedition in den Kaukasus im Juni 1918 st...
    07.06.2018

    Auf der Route nach Baku

    Mit der »Deutschen Kaukasusexpedition« begann vor 100 Jahren der Versuch der Mittelmächte, sich in Georgien und im Südkaukasus Einflusssphären zu sichern