Erdoğans Werk und Merzens Beitrag
Bis zu 2.352 Jahre Haft wegen Leitung einer kriminellen Vereinigung und Korruption fordert die Istanbuler Staatsanwaltschaft für den inhaftierten und abgesetzten Oberbürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu. Deutsche Medien sind sich weitgehend einig in der Verurteilung des als »monströs« bezeichneten Verfahrens, mit dem sich Präsident Recep Tayyip Erdoğan seines aussichtsreichsten Herausforderers zu entledigen sucht.
Der Spiegel sieht dabei auch Berlin in der Verantwortung. »Die Bundesregierung hat, anders lässt sich Merz’ Auftreten in Ankara nicht deuten, entschieden, dass sie die Türkei als Partner braucht und will«, schreibt Maximilian Popp dort. Das sei zwar nachvollziehbar, doch gerade deswegen gelte es, Brücken für türkische Demokraten nach Europa zu bauen. »Wenn der türkische Präsident seinen wichtigsten Rivalen unter fadenscheinigen Gründen wegsperrt, dann muss der Bundeskanzler dafür Worte finden.« In der Türkei müsse sich nun jeder überlegen, wie hoch der Preis ist, wenn man zur Opposition hält, gibt die Süddeutsche Zeitung zu bedenken. »Ob man laut sein möchte, wenn selbst ein Bundeskanzler schweigt.«
Im Hause Springer nutzt man derweil die Verfolgung Imamoğlus, um sich selbst als vermeintlichen Leuchturm der Freiheit zu inszenieren. Zu Wochenbeginn wurde Imamoğlu auf der »Berliner Freedom Week« – einer bizarren, an Hochzeiten des Kalten Krieges erinnerenden Veranstaltung mit geladenen Regime-Change-Aktivisten von Russland bis Venezuela unter Schirmherrschaft des regierenden Bürgermeisters Kai Wegner – mit dem Award for Courage der »Axel Springer Freedom Foundation« ausgezeichnet, wie die Welt »in eigener Sache« meldete. Kritik an der Türkeipolitik von Kanzler Merz folgt aus dieser Auszeichnung keineswegs. Solange Erdoğan aus dem Ausland unterstützt werde, müsse er sich wegen Querelen im eigene Land wenig Sorgen machen, konstatiert die Welt. »Für die Weltpolitik ist Erdoğan gerade unverzichtbar – egal, wer alles in den überfüllten türkischen Gefängnissen sitzt.«
Angesichts einer weitgehend hinter der Regierung gleichgeschalteten Presse in der Türkei finden sich dort nur wenige über das Nachrichtliche hinausgehende kritische Beiträge. Die öffentliche Verteidigung İmamoğlus »ist auch einer der Kanäle, über die der Kampf gegen die Regierung an Dynamik gewinnen kann«, hofft die oppositionelle Tageszeitung Birgün. »Die Anklageschriften werden von den Staatsanwälten verfasst, aber die Geschichte hat gezeigt, dass das endgültige Urteil vom Volk gefällt wird«, zeigte sich die linke Zeitung optimistisch. (nb)
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