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Aus: Ausgabe vom 10.11.2025, Seite 15 / Politisches Buch
Ideologiekritik

Überbau der Restauration

Die »Sakralisierung Israels« als »tragende Säule des Deutschseins«: Ein Band mit Beiträgen zur Kritik des deutschen »Hyperzionismus«
Von Susann Witt-Stahl
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Routinierte Gleichsetzung des Staates Israel mit »jüdischem Leben«: »Fridays for Israel«-Demo in Berlin (24.5.2024)

Mit dem 7. Oktober 2023 steigerte sich die staatlich verordnete »Israel-Solidarität« zur philosemitischen Hysterie. Die obsessive Identifikation mit dem angeblichen Judenstaat fand nicht einmal ihre Grenzen, nachdem sich dessen »Verteidigungskrieg« in Gaza als genozidaler Gewaltexzess entpuppt hatte. Im Gegenteil: Auf Meldungen zu erschreckenden Zahlen palästinensischer Opfer, vorwiegend Zivilisten, und schwere Kriegsverbrechen der israelischen Armee reagierten deutsche Politik und Behörden mit Verboten von Protesten und Repression. Flankiert wurde diese zum Teil mit extremer Polizeigewalt und (Grund-)Rechtsbrüchen durchgesetzten Maßnahmen von einem »philosemitischem McCarthyismus«, wie die Philosophin Susan Neiman die weitgehend vom Medienestablishment getragenen Denunziations- und Diffamierungskampagnen nennt.

»Hyperzionismus« – auf diesen Begriff hat der Historiker Daniel Cohen den vorläufigen Kulminationspunkt eines Prozesses der »Sakralisierung Israels als eine tragende Säule des Deutschseins« und Radikalisierung eines taktischen Philosemitismus im 21. Jahrhundert gebracht, der einst konstitutiv war für den Überbau der Restauration der BRD. »Hyperzionismus« lautet auch der Titel der von dem britischen Journalisten Hans Kundnani herausgegebenen Sammlung von insgesamt neun englischsprachigen Essays – unter anderem von Daniel Cohen, Dirk Moses und Jürgen Zimmerer –, die sich mit den zugrundeliegenden historischen Mythen, Ideologemen sowie den politischen und rechtlichen Konsequenzen befassen.

Dass der im Zuge des »Wiedergutmachungs«-Abkommens von 1952 entstandene Philosemitismus der Adenauer-Ära unweigerlich opportunistisch und aus antisemitischen Stereotypen gespeist sein musste – daran erinnert Daniel Marwecki: Es ging darum, die »Vergangenheit hinter sich zu lassen« und die Akzeptanz »als gleichberechtigter Staat in der heutigen Weltpolitik« zu erlangen, zitiert er Franz Josef Strauß, ab 1956 Verteidigungsminister. Das war Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Integration in den imperialen »Westen«, für den Israel als Bollwerk gegen den sowjetischen Einfluss im Nahen Osten fungierte. Und so verwandelte sich auf wundersame Weise die noch tief in der postnazistischen Gesellschaft verwurzelte Idiosynkrasie gegenüber dem »Mauscheljuden« in »Judenidolatrie«. Das trieb groteske Blüten. »Die Uzi in der Hand des deutschen Soldaten ist besser als jede Broschüre gegen Antisemitismus«, schrieb Adenauer-Intimus Rolf Vogel 1969 zum deutschen Import von 50.000 Stück dieser Maschinenpistolen – obwohl die Bundeswehr sie nicht brauchte. Ziel war vor allem, neben der Ankurbelung der israelischen Rüstungsindustrie, »jüdische Waffen« zu haben, wie ein Knesset-Abgeordneter feststellte. Heute findet dieser »Judenfetisch« (Deborah Feldman) peinliche Fortsetzung im »Qualitätsjournalismus«, zum Beispiel mit der Bezeichnung »jüdische Botschaft« (Der Spiegel) für die diplomatische Vertretung Israels in der Bundesrepublik.

Was laut Befund von Wolfgang Fritz Haug aus den 60er Jahren für den Antifaschismus gilt – wo er die Distanz zu seinem Gegenstand vermissen lässt und zur Phrase erstarrt, »perpetuiert er Faschistisches« –, vollzieht sich auch beim impliziten Antiantisemitismus: Was von vornherein objektiv gar nicht auf Emanzipation und Beseitigung der Verhältnisse zielte, die Auschwitz möglich gemacht hatten, musste unweigerlich zum Instrument ihrer Stabilisierung verkommen und neues Unheil stiften.

Wie der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze in seinem Beitrag überzeugend darlegt, gehört dazu zweifellos die von Bundeskanzlerin Merkel mit ihrer berühmten Knesset-Rede von 2008 faktisch zugesicherte Ausweitung von Artikel 5 des Nordatlantikvertrags auf Israel sowie die Komplettierung von dessen nuklearer Triade durch deutsche U-Boot-Lieferungen. Spätestens unter der von Faschisten durchsetzten Netanjahu-Regierung bestehe die akute Gefahr, warnt Tooze, dass die bereits während der Al-Aksa-Intifada geäußerte rechtszionistische »Vision«, sie als »Schutzschild« für eine ungehinderte Vollendung »ethnischer Säuberungen« zu nutzen, in Gaza Realität werden könnte.

Innenpolitisch wird der neue kategorische Imperativ der BRD »Zionismus über alles!«, den der Springer-Chef Mathias Döpfner in einer später geleakten internen Mail formuliert hat, bereits im großen Stil exekutiert: etwa mit der Entsorgung der Verantwortung für deutsche Kolonialverbrechen, Abwälzung deutscher Schuld am Holocaust durch Externalisierung des Antisemitismus in die arabische Welt und Nazifizierung von Muslimen etc. Alarmieren sollte die Aufladung des opaken Staatsräsonprinzips mit Gesetzeskraft, deren fatale Folgen die Rechtswissenschaftlerin Nahed Samour anhand von Fallbeispielen von Willkürurteilen analysiert und zeigt: Damit werden der Rechtsstaat, Grundrechte und das Völkerrecht sukzessive ausgehöhlt.

Für Kundnani ist das eigentlich Verstörende an solchen Schritten der »Rückkehr« in deutsche Vergangenheit – wie sie seit rund zwei Jahrzehnten und nun beschleunigt durch den 7. Oktober vollzogen werden –, dass sie als »Lehre« daraus interpretiert werden.

Hans Kundnani (Hrsg.): Hyper-Zionism. Germany, the Nazi Past and Israel. Verso, London 2025, 136 Seiten, 10 britische Pfund

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