Das Auge des palästinensischen Fußballs
Von Mathias Dehne, Bischkek
Kurz vor Mitternacht in einem Fünfsternehotel am Stadtrand von Bischkek, der Hauptstadt Kirgistans, die einst Frunse hieß. Zahllose Bauten und Denkmäler konservieren die Zeit des Sozialismus im Stadtbild. Bischkek ist vor allem eins – eine wunderbare Zeitkapsel. Es sind noch zwei Tage Zeit, bis die U-23-Fußballnationalmannschaft Palästinas das letzte und entscheidende von drei Spielen des Qualifikationsturniers für die Asienmeisterschaft in Saudi-Arabien im kommenden Winter bestreitet. Wir sitzen im Zimmer von Trainer Ibrahim Abu Madi. Arabischer Kaffee wird gereicht – schwarz und intensiv. Auf diesen Energieschub haben alle gewartet. Mit im Zimmer ist Akram Dschoma, der in der Medienabteilung des Palästinensischen Fußballverbandes (PFA) arbeitet.
Wir machen noch kurz im Zimmer von Khalid Abu El Haija (1. FC Nürnberg) und Suheib-Elias Ali (1. FC Union Berlin) halt. Kurzer Plausch, denn immerhin hat Abwehrmann Khalid, den wir gut aus seinen Jenaer Tagen kennen, in den beiden bisherigen Spielen getroffen. Torhüter Rami Shaweesh kommt dazu. Ich erzähle ihm, dass die junge Welt kürzlich über sein Schicksal berichtet hat. Er freut sich. Noch immer hat er keinen neuen Verein gefunden. Der Grund? Er lebt in den heutigen israelischen Gebieten und ist seinem Traum gefolgt, für Palästina zu spielen. Unter einem Regime, das Palästinensern jede Existenzgrundlage rauben möchte, ist das ein Tabu. Die Stimmung ist ausgelassen, und doch kommen wir nicht an dem Gedanken vorbei, dass die Geschichten von allen drei exemplarisch für dasselbe Menschheitsverbrechen stehen – die Vertreibung der Palästinenser.
Kind unter Besatzung
Mit Akram verabreden wir uns am nächsten Tag in der Zentrale des Fußballverbandes der Kirgisischen Republik. Während das Team das Abschlusstraining absolviert, begleiten wir ihn bei der Arbeit. Akram kann gar nicht fassen, dass Menschen von außerhalb – noch dazu Deutsche – von der Situation in Dschenin wissen. Denn aus Dschenin stammt er. Er berichtet von seiner Kindheit. Als die zweite Intifada begann, war der heute 32jährige gerade sieben Jahre alt und lebte in einem Dorf in der Nähe der Stadt im besetzten Westjordanland. Lange, so sagt Akram, habe er keine Vorstellung davon gehabt, was sein Vater mit Wörtern wie »Besatzung«, »Widerstand« oder »Intifada« meinte, auch weil die israelische Armee erst spät in sein Dorf vorrückte. Doch plötzlich war sie da und nutzte das Haus der Familie als Stellung. Die Soldaten schossen wahllos in die Luft oder auf Häuserwände und einmal »zum Spaß« auf Hühner, die die Familie neben dem Haus hielt.
Diese Zeit prägte Akram, wie er sagt. Aus dem Kind, das nur ans Spielen und Toben dachte, wurde ein Kind, das unter Beschuss und Belagerung aufwuchs – ein Kind, das verstand, was Besatzung bedeutet. In dieser Zeit wurde Akrams älterer Bruder verhaftet und verbrachte viereinhalb Jahre im Gefängnis. Akram musste getrennt von der Mutter Militärcheckpoints passieren, wenn sie zu Gefängnisbesuchen aufbrachen. »Vor den Soldaten musste ich mich wie ein Erwachsener verhalten. Ich war acht oder neun Jahre alt. Innerlich zitterte ich vor Angst und schwieg völlig, selbst gegenüber meiner Mutter und meinem Bruder«, sagt Akram. Warum sein Bruder verhaftet worden war, frage ich. Akram sagt, dass zu dieser Zeit viele junge Männer, die bei den palästinensischen Einsatzkräften arbeiteten, aufgrund einer angeblichen Zugehörigkeit zu den »Al-Aksa-Märtyrerbrigaden«, dem bewaffneten Arm der Fatah, verhaftet wurden.
Werkzeug des Widerstands
Tags darauf sitzen wir im Dölön-Ömürsakow-Stadion beim Spiel gegen Usbekistan. Das weite Rund mit seinen rot-gelben Sitzschalen ist nahezu verwaist. Der kirgisische Staatspräsident hat sich für das nachfolgende Spiel zwischen Kirgistan und Sri Lanka angekündigt, und so sehen wir die ganze Bandbreite kirgisischer Einsatzkräfte Formationen üben. Meine Freundin wird mit einem lauten »Dewuschka!« vom Hundertschaftsführer ermahnt, ihre Füße vom Vordersitz zu nehmen. Schließlich waren die Sitzschalen eilig wenige Minuten vor Anpfiff gereinigt worden. Alles soll strahlen, doch eine Person strahlt noch heller. Akram ist in seinem Element.
Nach dem Abitur entschied er sich bewusst für den Einstieg in den Journalismus. Er wuchs mit dem Bild mutiger Journalisten und der Überzeugung auf, dass Medien ein »Werkzeug des Widerstands« sind. Später spezialisierte er sich auf Sportfotografie und landete 2023 beim PFA, weil er darin eine kreative Möglichkeit sah, die Identität und den Widerstand des palästinensischen Volkes durch den Sport zu zeigen. »Sportfotografie ist für mich keine bloße Arbeit – sie ist eine nationale Botschaft. Jedes Bild trägt die palästinensische Flagge und zeigt den Willen unserer Spieler. Meine Kamera ist mein Weg, unsere wahre Geschichte zu erzählen und die Präsenz Palästinas in der Welt sichtbar zu machen«, sagt er.
Akrams Ausführungen spiegeln ein im Frühjahr in der Zeitschrift Jerusalem Quarterly veröffentlichtes Essay wider. Darin schreibt Issam Khalidi, dass die Palästinenser in verschiedenen historischen Phasen durch den Fußball ein Bewusstsein für nationale Identität, Unabhängigkeit und weltweite Anerkennung suchten. Der gescheiterte Oslo-Friedensprozess war mitverantwortlich dafür, dass der PFA nach jahrzehntelangem Kampf im Jahr 1998 FIFA-Mitglied wurde. Dies sorgte für eine stärkere und sichtbarere Manifestation der palästinensischen Identität im Sport auf internationaler Bühne. Und Palästinas Mitgliedschaft in internationalen Organisationen wie der FIFA sollte sich auch auf der politischen Bühne auszahlen. Sie ebnete den Weg für die Aufnahme Palästinas als Beobachterstaat ohne Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen im November 2012.
Doch all das ist dieser Tage nicht mehr als ein Blick in die Vergangenheit. Als Reaktion auf die zweite Intifada beschloss das israelische Kabinett im Juni 2002 den Bau der Sperranlagen, die die Westbank von weiten Teilen der heutigen israelischen Gebiete und Siedlungen trennen und in palästinensisches Territorium hineinragen. Sie sind einer der sichtbarsten Indikatoren für Israels Apartheidregime gegen die Palästinenser. Ich frage Akram, wie die anhaltende Besatzung, Apartheid und Vertreibung seine Arbeit beim PFA beeinflussen. Für Palästinenser, berichtet er, sind das keine historischen Begriffe – sie sind Alltag. Israels Apartheidmauer steht nur acht Meter vom Gebäude des Fußballverbandes entfernt. »Sie ist nicht nur Beton, sondern eine tägliche Erinnerung an unsere Fessel. Oft feuert das israelische Militär Tränengas in unsere Nähe. Selbst die Luft unserer Arbeit ist von Unterdrückung erfüllt.« Weiter erzählt Akram: »Ich kann meine Aufnahmen nicht wie andere Fotografen gestalten – nicht mit Leichtigkeit oder Humor. Meine Kamera trägt eine Botschaft: Palästina – Nakba, Gefangenschaft, Apartheid.« Das, was Akram sieht und fotografisch dokumentiert, zeichnet die Geschichte des Widerstands im Fußball. Er ist das Auge des palästinensischen Fußballs und eröffnet der Welt Einblicke, die sonst verborgen blieben.
Mittlerweile läuft die zweite Halbzeit des Spiels. Usbekistan führt mit 1:0. Akram scherzt. Wir hätten uns schon früher treffen können. Im März besuchte ich das WM-Qualifikationsspiel gegen Jordanien in Amman. Akram war auch dort: »Die Stimmung war positiv, bis Israel den Krieg wieder aufnahm. In diesem Moment fühlten wir uns alle gebrochen.« Auch ich erinnere mich noch genau, wie wir in Schockstarre bei palästinensischen Freunden im Wohnzimmer saßen, als Al-Dschasira die Bilder des Massakers an nahezu 200 Kindern übertrug. Damals produzierten Akram und seine Kollegen ein emotionales Video mit Spielern und Trainer. Er erzählt: »Wir hatten ursprünglich ein motivierendes Video geplant – ein Gruß an unsere Leute in Gaza. Nach der Rückkehr der Bombardierungen entschieden wir, statt dessen eine Solidaritätsbotschaft zu drehen. Das Video war technisch einfach, aber inhaltlich mächtig. Es sagte der Welt: Das ist Palästina. Das ist unsere Stimme. Wir existieren – auch wenn man uns nur hört, wenn wir sterben.«
Mittlerweile hat Palästina ausgeglichen. Kirgistan ist schon eines der exotischeren Ziele, doch für Akram waren mit Australien, Bangladesch, Irland, Südafrika, Tadschikistan und vielen weiteren Ländern einige außergewöhnliche Reisen dabei: »Den tiefsten Eindruck hinterließ Südafrika – ein Land, das selbst Apartheid erlebt hat und sehr mit unserer Sache sympathisiert.« Akram ist sich bewusst, dass es leider ein Privileg ist, als Palästinenser reisen zu können. Der PFA erhält vereinfacht Visa, weil Reisen unter dem Dach der FIFA stattfinden. Gefeit davor, dass israelische Behörden am Grenzübergang nach Jordanien – dem einzigen Tor zur Welt für Palästinenser – ohne Begründung die Ausreise verweigern, sind weder Spieler noch Trainer. Stundenlange Kontrollen, Demütigungen und Angst sind programmiert. Kleidung mit der Aufschrift »Palästina« ist tabu. »Jede Ausreise ist ein Kampf um Bewegungsfreiheit – eine tägliche Form des Überlebens«, sagt Akram.
Nachspielzeit
Usbekistan geht mit 2:1 erneut in Führung und markiert damit den Endstand. Aus ist der Traum von der Teilnahme an der Asienmeisterschaft, doch die Mannschaft hat Eindruck hinterlassen. Wir warten noch kurz auf Khalid, der die Trikotträume einiger Kinder erfüllt. Ich wiederum frage Akram zum Abschied, welche Träume er verfolgt. Mir ist nicht bewusst, dass es die schwierigste Frage ist, die ich ihm hätte stellen können, denn Träume für Palästinenser folgen einer anderen Logik. Weit vor persönlichen Wünschen kommt die Sehnsucht nach einem Leben ohne Besatzung, nach einem normalen Leben. »Unsere Realität zwingt uns, viele unerfüllte Träume zu tragen. Mein erster Traum ist schlicht: nicht durch eine willkürliche Kugel getötet zu werden. Beruflich träume ich davon, ein Team für Analysefotografie im Fußball aufzubauen – ein kreatives Feld, das sich rasant entwickelt. Doch wenn du mich heute fragst, sage ich: Mein Traum ist, dass der Krieg endet. Ich würde auf alle anderen Träume verzichten, wenn dieser eine Traum in Erfüllung ginge«, erzählt er.
Akram und ich sehen uns zufällig in der Nacht noch mal am Flughafen von Bischkek. Das freut uns beide, denn so richtig hatten wir keine Zeit, uns voneinander zu verabschieden. Er sitzt zusammen mit der Nationalmannschaft, während die letzten aus der Delegation die Prozedur am Check-in-Schalter hinter sich bringen. Mich interessiert sein Ausweis. Noch nie hielt ich einen palästinensischen Reisepass in den Händen. Akram zeigt ihn mir und sagt: »Der ist zu nichts gut, außer dazu, dich in den Himmel zu schicken.« Da werden die Erinnerungen daran wach, wie er seinen Traum äußerte, nicht willkürlich von einer Kugel getroffen zu werden und den Märtyrertod zu sterben.
Kurz bevor ich die Reportage fertigschreibe, sendet mir Akram ein Video. Für ihn und die A-Nationalmannschaft geht es eigentlich in den nächsten Stunden nach Algerien. Während er im Büro sitzt, feuert die israelische Armee grundlos Tränengasgranaten auf die Verbandszentrale. Das zugehörige Posting findet sich wenig später auf der Instagram-Seite des PFA, für die Akram mitverantwortlich ist. Die Arbeit musste eingestellt werden, Mitarbeiter litten unter Atemnot. Wieder mal hat die Realität Akrams Arbeit eingeholt. Und so bleibt die folgende Aussage sein widerständiges Mantra: »Mein größter Erfolg ist, trotz aller Schwierigkeiten weiterzumachen. Meine Arbeit als Fotograf im Verband ist für mich Ehre und Verantwortung zugleich.«
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