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Aus: Ausgabe vom 08.11.2025, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Ab nach Damaskus

Von Reinhard Lauterbach
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Mit historischen Vergleichen muss man höllisch aufpassen. Der letzte, der auf einem ausgerutscht ist, ist Johann Wadephul mit seiner Aussage, in Syrien sehe es aus wie in Deutschland 1945, deshalb könne man dorthin keine größere Zahl von Syrern abschieben.

Das ist historisch gesehen Unsinn. Im zerstörten Deutschland von 1945 wurde massenhaft abgeschoben – und zwar aus dem an Polen und die Sowjetunion abzutretenden Osten des Landes. Wadephul, ein Mann aus Schleswig-Holstein, hätte das irgendwann mal in der Schule mitbekommen können – schließlich war das »Land zwischen den Meeren« eine der Regionen, wo relativ die meisten sogenannten Vertriebenen aus den Waggons steigen und sehen mussten, wie sie zurechtkamen. Mitgefangen, mitgehangen.

Aber gut, fehlende Ahnung schützt nicht vor politischen Ämtern. Mit Wadephuls Vorgängerin war es ja genauso. Und der Minister hatte es ja womöglich auch irgendwie gut gemeint mit seinem historischen Vergleich. Er richtete sich gegen diejenigen in der eigenen Partei, die am liebsten möglichst viele Syrer abschieben wollen und das möglichst schnell. Denn genau zum Wiederaufbau des zerstörten Syriens würden ja Leute gebraucht, heißt es dort. Soll heißen: Dort seien sie nötiger als hier. Bild veröffentlichte am Mittwoch ein Video, worin der Historiker Hubertus Knabe daran erinnerte, wie die Deutschen – nicht nur die Vertriebenen aus dem Osten – nach 1945 massenhaft zum Trümmerräumen zwangsverpflichtet worden seien.

Nur stimmt diese Analogie für die knappe Million syrischer Geflüchteter in Deutschland überhaupt nicht. Sie waren in Syrien ja gerade nicht übriggeblieben wie die Deutschen von 1945, die außerhalb Deutschlands auch niemand haben wollte. Sondern sie hatten das Land verlassen, weil sie es dort nicht mehr aushielten, weil ihnen der vom Westen angezettelte und in Gang gehaltene Regimewechselkrieg das Dach über dem Kopf genommen oder die Existenz zerstört hatte. Sie betrachteten das Land also gerade nicht mehr als das »ihre«. Deutsche Politiker drehen ihnen daraus jetzt einen Strick. Wie denn – einfach nur seine kleine zivile Existenz fristen, seine Kinder ohne Krieg aufwachsen lassen wollen, das soll ein Fluchtgrund sein? Allenfalls vorübergehend. Einmal Syrer, immer Syrer.

Auch nicht, wenn sie gar keine Syrer mehr sind. Geflüchtete aus Syrien sind die Migrantengruppe, die sich am intensivsten um den Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft bemüht: Etwa 330.000, mehr als ein Drittel, haben sie bereits bekommen, knapp 100.000 kommen jährlich dazu, mit steigender Tendenz. Aber das hilft ihnen auch nur so lange, wie sie nicht noch die alte, syrische Staatsangehörigkeit behalten haben. Denn ausgebürgert werden darf laut Grundgesetz niemand, der dadurch staatenlos wird. Wer also noch einen Zweitpass hat, ist plötzlich dumm dran. Der darf abgeschoben werden.

Die einzigen Gegenargumente, es mit den Abschiebungen doch jetzt bitte nicht zu übertreiben, haben es aber auch in sich. Denn sie wiederholen das Argument der Abschieber, in Syrien seien die Geflohenen nützlicher als in Deutschland, indem sie es umdrehen: Hier seien sie doch auch nötig. Hunderttausende der geflohenen Syrer machten sich doch als »Fachkräfte« nützlich. Etwa in der deutschen Kranken- und Altenpflege, einer Branche, für die sich wohl nicht zufällig zu wenige eingeborene Bewerber finden. Denn dort wird mies bezahlt, und zwar, weil das politisch so gewollt ist. An Einwanderer – nicht nur aus Syrien, aber auch an sie – wird zuallererst ein Nützlichkeitskriterium angelegt: Können »wir« die oder den gebrauchen? Als menschliche Ressource des Staates gelten die Leute so oder so. Auch dann, wenn der beschließt, sich ihrer zu entledigen.

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