Filsers Ende
Von Hans Meier
Wir kannten ungefähr die Stelle, wo das Haus gestanden hatte. Aber die Straße war sehr lang, und alle Häuser waren zerstört. Nach den Bombenangriffen war die Straße kaum mehr zu erkennen, sie war nur noch ein Pfad, der sich zwischen Bergen von Schutt dahinwand. Sehr oft verschluckte ein Bombentrichter den Pfad, und wir balancierten um den Rand des Kraters, bis wir das abgerissene Ende des Weges wiederfanden.
Ich dachte die ganze Zeit an Blindgänger, die sicher noch unter den Trümmern lagen und die hochgehen konnten, wenn man sich unvorsichtig bewegte. Es war ein heiterer, etwas windiger Frühlingstag und sehr warm, nur der Gedanke an Blindgänger beunruhigte mich ein wenig.
Wir wollten eigentlich an diesem Morgen schwimmen gehen. Aber wir waren in diesen Maitagen 1945 voller Rachsucht, und wir wollten keine Zeit verlieren, Filser zu finden und zu töten. Ich war dafür, ihn zu erschlagen wie einen räudigen Hund oder zu erwürgen. Das erschien mir die angemessene Todesart für einen Gestapospitzel.
Berthold war anderer Meinung: »Keine unnötigen Grausamkeiten, wir stellen den Kerl an die nächste Wand und erschießen ihn.«
Berthold besaß eine Pistole, er hatte sie an diesem Morgen bei sich. Wir kannten den Mann nicht. Wir wussten nur, dass er Filser hieß und dass er Besitzer des bekannten Gartenlokals »Zur Wassermühle« war.
Das Lokal lag in dieser Straße. Wir fanden es auch, und es war, wie alle Häuser, völlig zerstört.
Ich war überzeugt, dass wir in dieser Wüstenei niemanden finden würden. Wir sollten lieber schwimmen gehen. Ich sagte es Berthold.
»Wahrscheinlich hast du recht. Vielleicht liegt er hier unter den Trümmern seines Hauses. Vielleicht lebt er bei Bekannten oder Verwandten, wer weiß. Wir sollten doch noch mal im Garten nachsehen, wir können nachher baden gehen.«
Ich schämte mich ein wenig. Wie konnten wir an unser Vergnügen denken, solange dieser Filser, dieser Henkersknecht, sich vielleicht noch irgendwo frei bewegte. Hoffentlich lagen im Garten keine Blindgänger herum.
Wir bestiegen vorsichtig den Trümmerhaufen der »Wassermühle«. Von oben konnten wir einen Teil des Gartens überblicken. Auch hier sah es wüst aus, ein schauriges Durcheinander von geborstenen Wänden, zersplitterten Bäumen, zerbrochenen Türen und Fenstern. In einem Bombentrichter lag eine Badewanne, daneben ein halbverkohltes Sofa.
Hinter dem Garten lag das Gelände der Firma ALMEKO, einer Kohlensäurefabrik. Die Hallen waren eingestürzt, und der große Schornstein, früher ein Wahrzeichen unseres Wohnviertels, war von einem Geschoss halbiert.
»Laß uns einmal zur Fabrik hinüberschauen«, sagte Berthold. Wir arbeiteten uns bis an das Fabrikgelände vor, das durch einen Wassergraben vom Garten getrennt war.
Ich sah den Mann zuerst. Er kam aus einem kleinen Nebengebäude heraus, vielleicht war’s ein Magazin oder Geräteschuppen, was weiß ich. Er bemerkte uns sofort. Er blieb mit einem Ruck stehen und sah sich ein paarmal unschlüssig um, als suche er nach einem Fluchtweg.
Wir sprangen über den schmalen Graben und gingen geradewegs auf ihn zu. Er war so um die sechzig, schätze ich, ein kleiner zerknitterter Kerl, hageres Gesicht und schon ziemlich ergraut.
»Was sucht ihr hier?« fragte er. »Hier ist nichts mehr zu holen. Da braucht ihr gar nicht reinzugehen, da drin ist alles kaputt, alles Werkzeug ist gestohlen.«
»Wofür hältst du uns?« sagte ich. »Wir wollen nichts klauen, wir suchen jemanden.«
Ich bemühte mich, ihn mit einem sogenannten durchbohrenden Blick zu fixieren. Es muss mir ziemlich gelungen sein, er wurde nervös. »Hier ist niemand. Hier ist außer mir keine Menschenseele.«
»Wir suchen einen Mann namens Filser, vielleicht kennst du ihn?« fragte Berthold.
»Nie gehört, was wollt ihr denn von dem?«
Wir hatten gemerkt, wie er bei dem Namen Filser zusammenzuckte. Klar, er log uns an, und wir gingen aufs Ganze.
»Wie heißt du«, fuhr ich den Alten an, »war das da hinten deine Kneipe? Bist du Filser?«
»Was wollt ihr von mir?« schrie er plötzlich los. »Was soll diese Fragerei?«
Berthold holte die Pistole aus der Jackentasche.
»Also du bist Filser. Das ist ja großartig, dass wir dich so schnell gefunden haben. Wir haben mit dir zu reden. Belüg uns ja nicht, hörst du? Los, mach dein Maul auf, du weißt doch genau, was wir von dir wollen.«
Die Pistole und unsere entschlossenen Mienen müssen ihm einen ordentlichen Schreck eingejagt haben. Er wurde richtig grün im Gesicht.
»Seid ihr wahnsinnig geworden. Ihr wollt mich umbringen, was habe ich euch getan?«
Ich sagte: »Du hast uns nichts getan, aber wir hätten gerne von die gehört, wer Frido Koopmann 1943 an die Gestapo verraten hat.«
»Los, erzähle«, knurrte Berthold und entsicherte die Pistole. »Du warst ja dabei, als sie ihn aus deiner Bruchbude holten. Du hast doch die Gestapo angerufen, wer denn sonst. Am besten, wir schießen dich hier gleich über den Haufen.«
»Ich war es nicht, ich war es bestimmt nicht. Es waren noch mehr Gäste da an dem Abend. Sie spielten Karten, und dann kamen plötzlich die Gestapoleute rein und verhafteten ihn, glaubt mir doch, ich habe nichts damit zu tun!«
Und dann fing der alte Mann doch wahrhaftig an zu weinen. Es war einfach scheußlich.
»Was machen wir mit ihm?« wandte sich Berthold an mich, »es könnte ja sein, dass er es nicht gewesen ist.«
Ich stimmte ihm zu. Mir war jetzt doch mulmig zumute geworden bei dem Gedanken, einen Menschen umzubringen. Wir hatten keinerlei Übung darin, jemanden zu erschießen oder gar zu erschlagen. Wir waren nur so furchtbar in Rage geraten, als wir die Sache mit Koopmann erfahren hatten: dass Koopmann damals am späten Abend in der »Wassermühle« verhaftet worden sei und dass es Filser gewesen sein müsste, der die Gestapo informiert hätte. Dass in seiner Gaststube ein Mann namens Koopmann säße und aus dem Flugblatt vorlas, das englische Flugzeuge abgeworfen hätten. Filser wäre übrigens fanatischer Nazi gewesen und Koopmann das genaue Gegenteil, vor 1933 Kassierer im Arbeitergesangsverein, ein Antifaschist also. Und wegen dieses Flugblattes sei er zum Tode verurteilt und im Zuchthaus Brandenburg mit dem Fallbeil hingerichtet worden. Und jetzt sitze die Frau mit drei kleinen Kindern da.
Das alles hatte uns wenige Tage nach Kriegsende die Mutter des Koopmann erzählt, den wir übrigens gar nicht persönlich kannten. Aber was machte das schon. Wir waren so maßlos empört über diese Grausamkeit, dass wir sofort mit der Suche nach Filser begannen.
Und jetzt hatten wir ihn gefasst, und wir trauten uns nicht, ihn zu töten. Wir hätten es an diesem Morgen, zehn Tage nach Ende des Krieges, tun können, wir hätten seine Leiche mit Steinen zudecken können. Es lagen noch so viele Tote unter den Trümmern. Es wäre völlig gefahrlos für uns gewesen. Auf einen mehr oder weniger kam es in diesen Tagen gar nicht an.
»Hör auf mit der Heulerei«, sagte Berthold, »erzähl uns genau, wie das an dem Abend war, und wer alles dabei war, und vergiss ja keinen.«
Und dann erzählte Filser. Er nannte sechs oder sieben Namen. Einige kannten wir sogar.
»Leben die alle noch?« fragte ich.
»Soviel ich weiß, leben sie alle noch, aber wo sie jetzt wohnen, weiß ich nicht.«
»Wir werden sie schon finden«, sagte Berthold, und steckte seine Pistole wieder ein.
»Wir werden alles genau prüfen«, fügte er hinzu. »Wir werden es schon herausbekommen, und wenn du es warst, dann gnade dir Gott.«
Dann ließen wir ihn stehen und gingen zum Schwimmen. Es war, ich erinnere mich, ein herrlicher Tag, und die sonnenüberglänzten Trümmerhaufen boten einen unerhört malerischen Anblick.
Wir suchten weiter nach dem Denunzianten. Wir suchten alle auf, die an dem Abend in der »Wassermühle« waren. Einen nach dem anderen nahmen wir uns vor. Aber es kam nichts dabei heraus.
Die Monate gingen dahin, der Winter kam. Nur einen hatten wir bisher nicht gefunden, einen Mann namens Meinike, einen kleinen Metallwarenfabrikanten. Wir wären fast zu spät gekommen. Als wir ihn ausfindig gemacht hatten – er hauste in einem Kellerloch in der Neustadt –, lag er im Sterben.
»Der Filser war’s«, erzählte Meinike. »Ich habe es selbst gehört. Ich war auf der Toilette, und das Telefon war auf dem Gang. Filser sprach mit der Polizei. Ich hörte, wie er den Namen Koopmann nannte. Es gibt überhaupt keinen Zweifel. Eine halbe Stunde später kamen sie rein und verhafteten ihn. Warum er Koopmann angezeigt hat? Ist doch klar, der hatte Schiss, der hatte selbst Angst, dass ihn die Gestapo verhaftet, wenn das rausgekommen wäre, dass da einer in seiner Kneipe aus englischen Flugblättern vorliest, ohne dass er das meldet.«
Als wir wenige Tage danach den Meinike noch einmal aufsuchten, damit er die ganze Geschichte aufschreibt und seinen Namen daruntersetzt, erfuhren wir, dass er im Krankenhaus gestorben war. Das war keine gute Sache. Unser einziger Tatzeuge war tot. Wir wussten jetzt mit Bestimmtheit, dass Filser Koopmann denunziert hatte, aber wir besaßen nichts Schriftliches, und so nutzte uns die Anzeige, die wir bei der amerikanischen Besatzungsbehörde erstatteten, nichts. Sie wollten der Sache nachgehen, aber bei dieser Versicherung blieb es dann auch.
Natürlich erlahmte mit der Zeit unser Eifer. Filser hatten wir völlig aus den Augen verloren. Er war verschwunden. Aber aufgeben kam nicht in Frage. Und so haben wir doch immer wieder versucht, ihn zu finden, haben herumgefragt und herumgeschnüffelt, ohne Ergebnis, er war und blieb verschwunden.
Es war im November 1946, als wir gleichlautende Schreiben von einem Rechtsanwalt bekamen. Dieser Mann schrieb uns:
»Sehr geehrte Herren! Schon über einen längeren Zeitraum verfolgen Sie meinen Klienten, Herrn Carlo Filser, mit Ihren Nachstellungen. Sie verbreiten dabei grobe Unwahrheiten und unerhörte Verdächtigungen, indem Sie Herrn Filser mit einem Vorfall in Verbindung bringen, der sich im August 1943 in seinem Lokal ereignete und bei dem ein Gast von der Polizei festgenommen wurde. Herr Filser hat mit der Sache nicht das geringste zu tun. Ich fordere Sie hiermit auf, Ihre Belästigungen sofort einzustellen, andernfalls werde ich gerichtlich gegen Sie vorgehen.«
Damit war alles klar, wir hatten nichts mehr zu bestellen, wir hatten nicht mehr die geringste Chance, Filser vor Gericht zu bringen. Sein Verbrechen würde für immer ungesühnt bleiben.
»Hätten wir ihn damals doch bloß erschossen und unter den Trümmern seines Hauses begraben«, sagte Berthold. Ich bin aber sicher, dass wir es nicht fertiggebracht hätten.
Und doch haben wir Filser noch gestellt, das war kurz vor dem Weihnachtsfest. An einem frostklaren Dezembertag starb er, mitten auf der belebten Hindenburgallee.
Wir sahen ihn plötzlich an der Ecke Tannenbergstraße und Hindenburgallee in der Menge. Er war etwa zwanzig Meter von uns entfernt. Sofort beschleunigte er seinen Schritt, wir immer hinter ihm her. Wir wollten ihm noch einmal gründlich unsere Meinung sagen. Jawohl, das war unsere Absicht. Mehr konnten wir ja nicht tun.
Immer wieder drehte er sich nach uns um. Als wir nur noch wenige Schritte hinter ihm waren, muss er wohl die Nerven verloren haben. Er fing plötzlich an zu laufen und rannte dann quer über die Fahrbahn.
Alles andere spielte sich in Sekundenschnelle ab. Ein Lastwagen der Kiesbaggerei Roth, bis obenhin beladen, überrollte Filser. Es war kein schöner Anblick, als er da in dem Schneematsch lag. Wir hielten uns auch nicht lange an der Unfallstelle auf. Dass er sofort tot war, erfuhren wir erst am nächsten Tag, als wir im »Kleinen Ratskeller« ein Bier tranken.
Berthold reichte mir das Blatt mit den Traueranzeigen rüber: »Lies mal.«
Ich las, dass der Wirteverein von 1889 erschüttert sei über den tragischen Tod seines langjährigen Schriftführers, Herrn Carlo Filser.
»Hör zu«, sagte ich, »hier steht, dass er ein lauterer Charakter gewesen sei.«
»Wir wissen es besser«, sagte Berthold.
Natürlich, wir wussten es besser, und ich sage das hier ganz offen, dass uns sein unvermutetes Ende nicht sonderlich zu Herzen gegangen ist.
Aus:
Hans Meier: Damals im April. Alltagsgeschichten von kleinen und großen Gaunern, von Krieg und Frieden und vom Widerstand. Mit zwölf Illustrationen von Niko Timm, hrsg. vom Werkkreis Literatur der Arbeitswelt, Bund-Verlag, Köln 1990, S. 129–136
Hans Meier (26.8.1914–12.11.2000), war Schriftsteller, Journalist und Widerstandskämpfer. Er wurde in Bremen als Sohn einer Arbeiterin und eines Maurers geboren. 1931 trat er in die KPD ein. Während der Nazidiktatur länger in Haft, wurde er später zur Wehrmacht gezogen. Nach dem Krieg war Meier Gewerkschafter und Redakteur kommunistischer und sozialistischer Zeitungen. 1976 erschien sein erster Erzählungenband »Kolonie Raffgier«.
Friedenspropaganda statt Kriegsspielzeug
Mit dem Winteraktionsabo bieten wir denen ein Einstiegsangebot, die genug haben von der Kriegspropaganda der Mainstreammedien und auf der Suche nach anderen Analysen und Hintergründen sind. Es eignet sich, um sich mit unserer marxistisch-orientierten Blattlinie vertraut zu machen und sich von der Qualität unserer journalistischen Arbeit zu überzeugen. Und mit einem Preis von 25 Euro ist es das ideale Präsent, um liebe Menschen im Umfeld mit 30 Tagen Friedenspropaganda zu beschenken.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Mehr aus: Wochenendbeilage
-
»Das Urheberrecht stammt aus der analogen Welt«
vom 08.11.2025 -
Schauplatz Weltbühne
vom 08.11.2025 -
Ab nach Damaskus
vom 08.11.2025 -
Das Auge des palästinensischen Fußballs
vom 08.11.2025 -
Draniki
vom 08.11.2025 -
Kreuzworträtsel
vom 08.11.2025