Projektion für alle
Von Stefan Ripplinger
					Das Kino wurde von dem Philosophen Sokrates (469–399 v. u. Z.) erfunden. In seinem »Höhlengleichnis« beschreibt er eine Gruppe von gefesselten Sklavinnen und Sklaven, die an die Wand geworfene Schatten der Außenwelt, aber niemals sie selbst sehen. Weil es auch nach der Hinrichtung von Sokrates nur selten gelang, die Fesseln zu lockern, haben sich viele darum bemüht, wenigstens die Projektion zu verbessern. Von der Laterna magica über das »Lebensrad« oder Phenakistiskop, das Bilder mit mechanischen Mitteln animiert, über das bereits sehr fein ausgetüftelte »Optische Theater« von Émile Reynaud oder August Fuhrmanns monumentale »Kaiserpanorama«-Anlage bis hin zu dem »Kinetoskop« der Firma Edison und dem Kinematografen der Brüder Lumière reichen die Apparaturen, die uns das Leben etwas angenehmer machen sollten, indem sie die Schatten tanzen ließen.
Der wichtigste Beitrag der Schaustellerfamilie Skladanowsky zur sokratischen Projektion ist das »Bioscop«. Mit diesem wuchtigen Gerät führte sie ab dem 1. November 1895 im Berliner Varieté »Wintergarten« am Central-Hotel (Friedrichstraße) ein etwa viertelstündiges Programm von Filmchen auf, das Zirkusakrobatinnen und -akrobaten, aber auch ein »boxendes Känguruh« bot. Der patriotischen Geschichtsschreibung Deutschlands gilt schon seit der Nazizeit diese Präsentation als der wahre Beginn des Kinos.
Nebelbilder
Die Behauptung, die Skladanowskys hätten das Kino erfunden, mag in unseren Ohren großmäulig und chauvinistisch klingen, weil die Firma Edison schon Jahre vorher viel bessere Laufbilder drehte, das Bioscop eine technologische Sackgasse war und die künstlerische Qualität auch der später produzierten Filme meistens mager ausfiel. Aber das dürfte Ansichtssache sein, und wenn der Filmhistoriker Thomas Elsaesser erklärte, das deutsche Kino, insbesondere das der Skladanowskys, sei »weder in technischer noch in stilistischer Hinsicht ›rückständig‹«, oder der Journalist Hellmuth Karasek 1995 wegen der »Wintergarten«-Revue 100 Jahre zuvor tönte, das Kino, nicht nur das deutsche, werde nun 100 Jahre alt, werden sie ihre Gründe gehabt haben. Möchten wir sie kennen?
Elegant zieht sich Wim Wenders aus der Affäre, der mit seinen Münchner Studentinnen und Studenten eine niedliche Posse über »Die Gebrüder Skladanowsky« (1996) gedreht hat. Wenders kommen die Brüder wie unbedarfte, aber kindlich vergnügte Zirkusleute vor. Er erzählt, sie seien von der Leitung des »Wintergartens« zufällig entdeckt worden und hätten es neidlos hingenommen, dass ihnen am Ende zwei Kapitalisten aus Lyon zuvorgekommen waren. Das klingt erfreulich unpatriotisch, aber wahr ist es nicht. Die Familie Skladanowsky war damals schon seit zwanzig Jahren im Schaustellergewerbe tätig und noch im Oktober 1895, also unmittelbar vor der Filmvorführung, hatten die Brüder Max und Emil unter den Pseudonymen M. und E. Hamilton ihr »Elektro-mechanisch-pyrotechnisches Marine-Wasser-Schauspiel-Theater« im »Wintergarten« präsentiert.
Zwar trifft es zu, dass, wie Wenders sagt, dass niemand in der Familie eine Ingenieursausbildung besaß. Doch wollte man gern einen andern Eindruck erwecken. So wirbt ein Plakat für ein Spektakel in der Berliner »Flora« im November 1879: »Anerkannt größtes Welt-Diophrama, kann über 25 Fuß dargestellt werden, geleitet vom Physiker C. Skladanowsky, hier angekommen aus den Niederlanden (Holland) von Rotterdam und der schönen Residenzstadt Haag«. Zu sehen seien neben vielem anderen »Humoristische Zauberbilder« und »Chromatropen (Farbenspiele)«. Tatsächlich wurden die Zauberbilder und die Farbenspiele unter Hallo vorgeführt, aber weder war Carl Skladanowsky (1830–1897) Physiker, noch kam er aus dem schönen Den Haag.
Skladanowsky, vermutlich gelernter Glaser, besaß seit 1855 in Berlin eine Fabrik für Steinpappe, die vor allem zur Dämmung von Dächern verwendet wird. Nachdem sein Unternehmen im »Gründerkrach« 1873 bankrott gegangen war, verlegte er sich auf die damals sehr populäre Präsentation von Projektionen aller Art, vor allem aber auf »Nebelbilder«. Nebelbilder (dissolving views) nennt man eine Weiterentwicklung der Laterna magica. Bemalte Scheiben in den Maßen 11,7 mal 11,7 Zentimeter wurden mit lichtstarken Lampen auf einen angefeuchteten Vorhang aus Schirting projiziert. Durch geschicktes Auf- und Abblenden, das rasche Wechseln der Scheiben, den Einsatz von Doppelprojektoren, Filtern und Soundeffekten entsteht die Illusion von Bewegung.
Schon früh setzte Vater Skladanowsky zwei seiner Söhne als Assistenten ein: Max (1863–1939) war gelernter Fotograf und hat, wie seine liebenswert schrullige Tochter Lucie in Wenders’ Film bezeugt, etliche der präsentierten Scheiben selbst gemalt. Emil (1866–1945) übernahm im wesentlichen die Funktion eines Managers und Buchhalters. Ein dritter Bruder, Eugen (1859–1945), ging als Clown zum Zirkus, sollte aber in Filmen seiner Brüder auftreten, weshalb er sich rühmte, der erste Filmschauspieler der Welt zu sein. Kleiner machte es diese Familie grundsätzlich nie.
Nicht nur in Varietés, auch in Schulen zeigten die Skladanowskys ihre Bilder, etwa von der »Sündfluth«. Gerade das nationale Bedürfnis befriedigten sie gern. Max und Emil, die das Geschäft nach dem Ausscheiden des Vaters fortführten, projizierten etwa am 26. Januar 1895, am Vorabend von Kaisers Geburtstag, im Zirkus einen Kranz von Rosen und ein Bild des Herrschers. »Das Publikum nahm diesen spontanen Huldigungsakt mit Begeisterung und unter stürmischem Hervorruf des Direktors auf.« (Berliner Börsen-Zeitung, 29.1.1895)
Schon seit dem Vorjahr experimentierte Max mit neuen Aufnahme- und Projektionsmethoden. 1889 war der Zelluloidrollfilm auf den Markt gekommen. Im Rollfilm verbarg sich die Möglichkeit, Bewegung leichter aufzeichnen und präsentieren zu können, als es Reihenbildfotografen wie Eadweard Muybridge oder Ottomar Anschütz bislang gelungen war, die noch mit Platten arbeiteten. Doch wie dem Rollfilm diese Möglichkeit entlocken? Max baute einen »Kurbelkasten«, mit dem er den Film an einem Objektiv vorbeiziehen konnte. Er verwendete ein Schneckengetriebe und nicht ein Malteserkreuz, dessen Technik ohnehin zu dieser Zeit noch nicht ausgereift war.
Akrobatinnen und Akrobaten aller Art – der Jongleur Paul Petras, die Reckturner Milton, eine Menschenpyramide der Familie Grunato und einiges mehr –, wurden im Mai 1895 im Biergarten des Ausflugslokals »Feldschlösschen« in Berlin-Pankow abgefilmt. Maxens Herausforderung bestand darin, eine Frequenz von wenigstens 16 Bildern pro Sekunde zu erreichen, weil sie erst dann miteinander zu verschmelzen scheinen. Auch befanden sich die Kader nicht in einem regelmäßigen Abstand zueinander. Er sah sich gezwungen, sie per Hand nachzujustieren und die Streifen mit Schuhösen zu perforieren.
Das von William Dickson in der Firma von Thomas Alva Edison entwickelte Kinetoskop dürfte dem Bastler einige Anregungen gegeben haben. Es war in Berlin ab März 1895 in »Castans Panopticum« zu bestaunen. Das elektrisch betriebene Kinetoskop verarbeitet bis zu 36 Bilder pro Sekunde, steht aber als Guckkasten jeweils nur einer Person zur Verfügung. Zu sehen waren Dicksons seit 1890 gedrehte Filme. Besonders gelungen ist die »Szene aus der Schmiede« (1893), die in Auflösung und Länge (40 Sekunden) Maßstäbe setzte.
Mit dem Doppelprojektor und einer abwechselnden Projektion von Bildern versuchte Max Skladanowsky, die Abspielgeschwindigkeit auf 16 Bilder pro Sekunde zu erhöhen. Ob das bereits bei der ersten Vorführung gelungen ist, ist nicht ganz sicher, wie Joachim Castan in seiner überaus gründlichen Studie schreibt (»Max Skladanowsky oder der Beginn einer deutschen Filmgeschichte«, 1995). Jedenfalls scheint das Ergebnis nicht gerade überwältigend ausgefallen zu sein. Zeugen des »Wintergarten«-Spektakels berichteten von einem Flimmern und Stocken des vergleichsweise schwachen Filmbilds. Nicht jeder und jede in dem riesigen Veranstaltungssaal, der 1.500 Personen Platz bot und zu dieser Zeit meistens ausverkauft war, konnte die Leinwand deutlich erkennen. Das Bioscop machte außerdem einen Heidenlärm, der vom Saalorchester übertönt werden musste.
					Das zeitgenössische Publikum nahm die viertelstündige Aufführung zwar freundlich, aber nicht enthusiastisch auf. Fachleute mussten anerkennen, dass es den Skladanowskys gelungen war, Edisons (das heißt Dicksons) Kinetoskop auf »Lebensgröße zu übertragen« (Volks-Zeitung; 4.11.1895). Ansonsten war das Bioscop die letzte Ausformung der Laterna magica. Wieder projizierte man auf einen feuchten Schirtingvorhang, wieder verwendete man den Doppelprojektor. Und was gezeigt wurde, fügte sich nahtlos ins Varieté, dessen Publikum man genauestens kannte. Wie mit allen ihren Sensationen gingen die Skladanowskys auch mit dem Bioscop auf Europatournee. Erste Station sollten die Folies Bergère in Paris sein. Doch in Paris trafen sie zu ihrem Unglück auf die Brüder Auguste und Louis Lumière, die am 28. Dezember 1895 im Grand Café ihren Kinematografen vorstellten.
Der nächtliche Freier
Um dieses unglückliche Zusammentreffen ranken sich viele, zum Teil von der Familie Skladanowsky selbst gestreute Verschwörungsgeschichten. Die Lumières sollten die Skladanowskys in einen Hinterhalt gelockt, die Betreiber der Folies Bergère bestochen, gar das Bioscop ausspioniert haben. Fakt ist, dass der ebenfalls auf Dicksons Vorarbeit beruhende Lumièresche Kinematograf – Aufnahme- und Vorführapparatur zugleich – eine dem Bioscop weit überlegene Technik besitzt. Er war nicht nur leicht und handlich, bereits die ersten mit ihm gedrehten Filme waren drei- oder viermal länger als die der Skladanowskys. Dank eines neuartigen Greifermechanismus erreichte das Gerät die akzeptable Frequenz von 16, später 18 Bildern pro Sekunde. Schon im Frühjahr 1895 hatten erste Privatvorstellungen stattgefunden. Auch diese Filme flimmerten und stockten zwar, da das Gerät noch keinen Drehflügelverschluss besaß, aber der Bildstand war solider als bei den Filmchen der Skladanowskys. Das Management der Folies Bergère schien von dieser Erfindung selbst überrascht und gewährte den deutschen Brüdern ein fürstliches Ausfallhonorar von 3.000 Franken.
Sie gaben noch nicht auf: Max verbesserte das Bioscop 1896 erheblich, wodurch längere Filme, teilweise schon mit Spielfilmhandlung, möglich wurden. Besonders originell sind sie, anders als der Filmhistoriker Elsaesser meint, nicht. Die Lumières hatten die Ausfahrt der Feuerwehr oder die Einfahrt eines Zuges gefilmt – die Skladanowskys taten es ihnen gleich. Dagegen darf ihre Klamotte »Der nächtliche Freier« (1896) ein echt deutsches Erzeugnis genannt werden: Ein betrunkener Mann kommt nach Hause und wird von der Gattin mit dem Inhalt des Nachttopfs übergossen. Bruder August, hauptberuflich Clown beim Zirkus Renz, spielte als Ehemann an der Seite von Lavater Lee, der im Zirkus sonst der dumme August war und hier die Damenrolle übernahm.
Anders als vom »Freier« haben sich von der »Ablösung der Wache« (1896) nicht nur die Kontaktabzüge erhalten. Der einminütige Film zeigt laut Max Skladanowsky »in wunderbarer Weise die damalige Begeisterung für unser Militär, wie es umgeben von Tausenden mit klingendem Spiel zur Neuen Wache marschierte«. Der dokumentarische Wert von »Ablösung der Wache« kann nicht bestritten werden. Doch unsterblich machten sich die Brüder mit einem anderen Werk, das eher zufällig entstand.
Wagner des Films
Auf ihrer Europatournee mit dem Bioscop arrangierten sie am 2. August 1896 die »Komische Begegnung im Tiergarten zu Stockholm«. Die 39 Sekunden auf Ilford-Material sind der erste je in Schweden gedrehte Film, und sie haben es in sich. Varietékünstlerinnen und -künstler aus dem Tivoli, unter anderem die drei Tscherpanoffs, die im »Wintergarten«-Filmprogramm einen Volkstanz gezeigt hatten, wirkten daran ebenso mit wie Schauspielerinnen und Schauspieler vom Königlichen Theater sowie zufällige Passanten. Betrunkene wanken Arm in Arm eine Treppe vor dem Tiergarten herunter, eine Dame fällt in Ohnmacht, ein Fahrrad wird gestohlen, ein Regenschirm macht sich selbständig, mehrere Schlägereien brechen gleichzeitig los. In einer zweiten Einstellung drängen noch mehr Menschen heran, ein Fahrradfahrer fährt in die Menge, bei schönstem Sonnenschein hüpft ein Herr mit Regenschirm ekstatisch umher, an den Rockschoß des Mannes klammert sich ein Knabe. Kurz, hier haben wir das Meisterwerk der Skladanowskys vor uns.
Sie gingen noch 1897 auf Tournee und bespielten etwa im März des Jahres in Stettin eine Leinwand von vier mal sechs Metern. Aber schon zeichnete sich ab, dass die Konkurrenz es besser konnte. Außerdem zerstritten sich die Brüder, vermutlich in einer Erbfrage (der Vater starb in diesem Jahr). Max führte die Firma unter dem schönen Namen »Projektion für alle« alleine fort. Zwar stellte er weiterhin verschiedene Experimente, etwa zur Farbfotografie, an, aber produzierte nur mehr selten Filme. Er konzentrierte sich auf Daumenkinos, Abblätterheftchen mit teils lustigen, teils erotischen Szenen – auch eine antisemitische durfte nicht fehlen. In »Kämpfende Hirsche« sieht man Karikaturen zweier Juden, die beide Hirsch heißen und Stoffhändler sein sollen, der eine tritt im Kaftan, der andere mit Spitzbart und Zylinder auf. Weil sie sich über einen Preis nicht einig werden können, balgen sie sich.
Mit solchen aufs nationale Empfinden abgestimmten Büchlein wurde Max Skladanowsky vermögend und führte eine mittelständische Firma, während der Bruder Emil sein Erbe im Spiel verschleuderte. Doch in der Inflation 1923 ging auch Maxens Firma bankrott, und ungefähr von dieser Zeit an fühlte er sich dazu berufen, seine Landsleute daran zu erinnern, was für ein Genius in ihrer Mitte weilt.
1925 erklärte er: »Die eine Tatsache ist jedoch nicht aus der Welt zu schaffen, dass ich der Erste auf der Erde war, der das Laufbild riesengroß der Öffentlichkeit am 1. November 1895 im Wintergarten zu Berlin übergab. (…) Dass mein Apparat plump und geräuschvoll war, ist doch selbstverständlich: Wie sah denn die erste Druckpresse aus? (…) Von Berlin aus ging das erste Laufbild um die Welt und nicht von Paris aus, das erst 2 Monate nach mir nun solche Veröffentlichung erlebte.« (Deutsche Zeitung; 23.9.1925) Jahr für Jahr spitzte er seine Eigenwerbung weiter zu, bis sie 1936, drei Jahre vor seinem Tod, fantastische Züge annahm: »Was Wagner für die Musik ist, bin ich für den Film!« brüstete er sich auf einer Karte an Bekannte.
Hebräische Filmblätter
Die von Anfang an gepflegten nationalen Neigungen verbanden sich bei Max nun mit nazistischer Paranoia. Am 7. Mai 1933 schrieb er an Oskar Messter (1866–1943), der bis zur Gründung der UFA 1917 der mächtigste Filmindustrielle in Deutschland gewesen war, er fühle sich von »undeutschen Elementen (…) in hebräischen, international-marxistisch eingestellten Filmblättern in der schmutzigsten Weise« verleumdet. Seine »Erfinderarbeit« werde mit »jüdischer Hilfe in den Schmutz gezogen«. Tatsächlich ließ der auf seine eigene historische Rolle bedachte Messter nichts unversucht, um Skladanowsky den Rang des Kinopioniers streitig zu machen, aber war selbst weder Jude noch Marxist und wies seinen Gegenspieler ironisch darauf hin, die »Gleichschaltung« sei doch »schon vor Wochen erfolgt«.
Tatsächlich waren inzwischen die Nazis auf den deutschen Erfinder aufmerksam geworden. Propagandaminister Joseph Goebbels traf sich im Mai 1933 mit ihm zu einem Gespräch, die Presse schrieb (absurderweise) von den »jüdischen Gebrüdern Lumière« und pries Max Skladanowsky als »einen der größten Erfinder der Neuzeit« (Völkischer Beobachter, 22.6.1938). Doch schon, als man am 1. November 1935 die ersten fünfzig Jahre Kino mit Pomp feierte und den Brüdern eine Gedenktafel widmete, nahm das Interesse offizieller Stellen an der Angelegenheit merklich ab. Über die Gründe dafür kann nur spekuliert werden. Angeblich war Max Skladanowsky kein Parteimitglied. Doch da er selbst jede Ansichtskarte getreulich mit »Heil Hitler!« schloss, hätte man darüber wohl hinwegsehen können. Castan vermutet, dass die Verantwortlichen die Überlegenheit Edisons und der Lumières eingesehen hätten. Aber seit wann lassen sich Diktatoren von der Wahrheit beirren? Wie auch immer, Goebbels erschien nicht zur Jubiläumsfeier, und die Reichsfilmkammer ließ mit Schreiben an alle Beteiligten eine öffentliche Fortsetzung des unter anderem von Messter befeuerten Erfinderstreits verbieten.
Mit dem deutschen Kino war es seit der Machtübernahme der Nazis ohnehin und für immer vorbei. Wie der Filmhistoriker und Regisseur Günter Peter Straschek in seiner fünfstündigen Dokumentation »Filmemigration aus Nazideutschland« (1975) mit vielen Gesprächen und Zitaten vor Augen führt, wurden die besten Kräfte der deutschen Filmwirtschaft außer Landes getrieben. Die allerwenigsten kehrten zurück. Die hohe Zeit des deutschen Kinos fiel damit außerordentlich kurz aus, ohnehin hatte sie später als in anderen Ländern eingesetzt. Straschek stellt in seinem unverzichtbaren »Handbuch wider das Kino« (1975) fest: »Es lag an Deutschlands Aufstieg zur führenden Industriemacht Europas, dass es bei angespannter Kapitalinvestition in bevorzugte (z. B. Schwer-) Industriezweige außerhalb dieser (…) nur geringe Investitionen noch aufzubringen vermochte.« Es war also genau wie heute, das Geld ging in die Rüstung, für anderes blieb nicht viel übrig.
So stammten bis 1914 fast neunzig Prozent der in deutschen Kinos gezeigten Filme aus ausländischer Produktion. Doch dann trat, fast aus dem Blauen, etwas Eigenartiges ein. Mit Werken wie Robert Wienes »Das Cabinet des Dr. Caligari« (1920), mit Ernst Lubitschs »Austernprinzessin« (1919), Fritz Langs »Der müde Tod« (1921) oder Friedrich Wilhelm Murnaus »Der letzte Mann« (1924), ganz zu schweigen von Lotte Reinigers Animationen und Hans Richters Experimenten, mit den »Menschen am Sonntag« (1929) von Robert Siodmak und Edgar G. Ulmer oder Slatan Dudows und Bertolt Brechts »Kuhle Wampe« (1932) blühte ganz plötzlich, doch leider nur kurz eine Kunst auf, deren formaler Erfindungsreichtum und politische Schärfe bis heute unerreicht sind. Sogar George Grosz und John Heartfield spielten damals mit dem Gedanken, einen »expressionistischen Film« zu schaffen. Haben Max und Emil Skladanowsky zu dieser Geschichte irgend etwas beigetragen? – Durchaus. Vielleicht nicht mit ihrer »Wachablösung«, aber sicherlich mit ihren Stockholmer Begegnungen.
Stefan Ripplinger, Jahrgang 1962, ist Journalist, Herausgeber und Übersetzer. Er lebt in Berlin. In der Ausgabe vom 21./22. Oktober 2023 erschien von ihm an dieser Stelle »Schneewittchen sagt nein« – Ein Parforceritt durch die Wahnsinns- und Wunderwelt des portugiesischen Kinos seit den 1980er Jahren
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